Herr Mu sorgt vor, die Kollegin zerknüllt

Mit einem achtlosen Blick reißt meine Lieblingskollegin das gestrige Blatt von ihrem doofen Sprüchekalender und schimpft über den Schrott der da geschrieben steht. Oft schaue ich über ihre Schulter und empfinde die Sprüche auch als Zumutung. Möchtegern tiefgängiger Schrott. Weiß der Henker, warum sie das Ding trotzdem seit über zehn Monaten auf dem Schreibtisch stehen hat. Wahrscheinlich weil es uns amüsiert und wir beide wissen, dass die echten Weisheiten nicht im Kalender, sondern vor der Türe zu finden sind. „Und auf den Fluren laß die Winde los…“, zitiert sie und zerknüllt das Blatt. Sie hat Rilke zerknüllt. Die Wahnsinnige hat Rilke zerknüllt! Schande über sie! Fassungslos höre ich sie etwas über  Flatulenzen auf dem Büroflur murmeln und erwäge, sie mit dem Locher nieder zu schlagen. Rilkes Herbsttag ist es wert, dass man zu drastischen Mitteln greift.

Ich habe sie nicht nieder geschlagen. Aber ich habe die Schokolade aus ihrer Schublade für eine ganze Stunde verschmäht. Wer Rilkes Herbsttag nicht ehrt, mit dem breche ich kein Brot. Nicht einmal Bahlsen Schokoladenkekse. Lange bin ich ihr nicht böse. Der Sprüchekalender wird seinem Ruf gerecht und ist eine Enttäuschung. Sonst hätte er nicht nur die ersten zwei Sätze abgedruckt, sondern vor allem das Ende des Gedichts. Ein Ende, das ich seit ich sechzehn Jahre alt bin, im Herzen tragen und das meine größte Angst symbolisiert. Alleine zu sein. Nicht rechtzeitig für ein Heim gesorgt zu haben und die Einsamkeit zu spüren, wenn der Winter kommt. Nicht der kalendarische. Der am Lebensabend. Und sie zerknüllt einfach Rilke. Ganz komme ich noch nicht darüber hinweg. 

Aber das macht sie oft. Sie zerknüllt etwas. Meinen Scheißtag, meine schlechte Laune oder Weltschmerzanflüge. Solange sie das weiter macht, darf sie auch Rilke Fragmente zerknüllen. Ich hab ihr das ganze Gedicht trotzdem auf dem Heimweg noch geschickt. Lu hat es heute ebenfalls gepostet und ich konnte es bequem weiter leiten. Das Ende, du liebe Zerknüllende. Ist das nicht gruselig wunderschön traurig? Mit ihr würde ich mir glatt ein Haus bauen. Dann würden wir zwei Alten dasitzen und uns würde der Gesprächsstoff sicher nicht ausgehen.

Auch Herr Mu baut sein Haus. Er hat sich ein Kissen an die Bushaltestelle gelegt. Rosa mit weißen Punkten. Das ist auf den blauen Sitzen sehr hübsch und auch gleich viel wärmer. Als er kurz beim Bäcker verschwand habe ich mich darauf gesetzt. Es war noch warm von Herrn Mu. Auch Herr Meier schleppt seit ein paar Tagen ein Kissen mit sich herum. Die Holzbänke der Kneipe sind ihm zu kalt geworden, aber er will noch draußen sitzen. Da sieht er mehr und kann uns zurecht weisen, wenn wir unsere Fahrräder falsch parken. Ich brauche kein Kissen. Ich habe Kissen-Menschen um mich. Die halten auch warm.

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Wenn Sie Rilke nicht mögen…..dann sind Sie seltsam. Ich mag Sie vermutlich dennoch. Mein Gemüt gleicht dem eines Bernhardiners. Ich mag fast alle.  

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deine Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiel den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt alleine ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

55 Gedanken zu “Herr Mu sorgt vor, die Kollegin zerknüllt

  1. Liebe Mitzi!

    Der werte Herr Rilke gehört wirklich nicht zerknüllt, da gebe ich ihnen völlig Recht. Aber jeder empfindet ja bekanntlich etwas anderes als Knüller 🙂
    Wenn Sie bisher noch kein Haus gebaut haben, so kann ich Ihnen doch sagen, dass Sie mit Ihrer Bloghütte einen ganz wundervollen Anfang gemacht haben. Ihre Beiträge würde ich nie in den Papierkorb werfen!

    Ich wünsche dem Bernhardiner einen angenehmen Herbstabend
    Kuh Mallybeau

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    1. Liebe Mallybeau,
      vielen Dank. Ich fühle mich in meinem Hüttchen auch sehr wohl. Die liebe Kollegin darf natürlich knüllen solange sie möchte – sie trägt ja ansonsten dazu bei, dass mir schön warm ums Herz ist.

      Herzlichste Grüße
      Mitzi Wuff

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      1. Selbstredend. Sonst müssten Sie ja Ihre liebe Kollegin umgehend zerknüllen und sich selbst zum Fraß vorwerfen … was für ein unschöner Gedanke.
        Genießen Sie Ihren Knochen! 🙂

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  2. Ach ja…..Dieser Rilke
    Ich gestehe….Ich liebe seine Poetischen Traktate…Seine Verse…Seine ABC Formen / schon lange…Sehr lange.
    Und dennoch frösteln es mich und schaudert mich….Bei all dem geRilke um mich herum.
    Sehr inflationär und aufs übelste deklamiert und in immer neue Buchseiten gepresst. Auf Abreisskalender und Maxikaffeetassen.
    Mich schaudert.
    Aber dafür kann ja Rilke nichts.
    Verkauft sich halt gut.
    Auch wer sonst nie Gedichte kauft liest hängt mal die Dioptriene da rein.
    Aber nur ihn. Keinen Benn keine Lasker keine Kaleko keine Eisinger keine Domin weder Celan noch Eich keine Borchers keinen Kunze.
    Und von aktuellen Geistern gar nicht zu reden.
    Aber Rilke….ja Rilke.
    Ach…Wie mich das langweilt und so kann ich auch niemanden böse sein der einen Abreisskalender nicht gebührlich ehrt.
    Womöglich mag sie gute Schokolade.
    Und schreibt heimlich Gedichte.

    Herzlich.

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    1. Inflationär unter das Volk geschmissen, wird er in der Tat. Ich kann es dir nachfühlen. Finde ich selbst es doch befremdlich den „kleinen Prinzen“ überall zu begegnen und mit Bedauern kaum die anderen, wunderbaren Werke beachtet zu sehen.
      Gedichte lernte ich erst hier zu schätzen und vielleicht zu verstehen. Nicht zu letzt deine feinen Worte. Ich lerne einige kennen, von denen ich nie zuvor gehört habe. So macht mich auch dein Kommentar, auf unbekannte Namen neugierig.
      Und doch…Rilke noch immer. 😊

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  3. Oh Gott ja, ich erinnere mich…. Ich hätte es allerdings an dem einen Satz nicht erkannt, mir haben sich eher die letzten fünf eingeprägt. Vielleicht weil die wesentlich häufiger ohne die ersten Sätze zitiert werden?

    Danke fürs Erinnern!

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  4. Das feine Herbstpoem vom Wortzauberer schön in eine kleine Alltagsgeschichte mit einer Abriss-geilen Kollegin und Herrn Mu (und sogar Lu *lächel* ) eingebettet, liebe Mitzi, das bringt Sonne in meinen Arbeitsmorgen, vielen Dank dafür und herzliche Herbstgrüße vom Lu

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  5. 😊Sehr schön. Ich mag den Rilke auch auch ganz gern. Knüllen ist gut. Das befreit. Probier mal! 😉 Ich zerknülle auch manchmal. Meine Gedanken, das Bett und besonders mein Gesicht während es sich in die Kissen drückt. Ach so. Dieser Beitrag lässt sich zum Glück nicht zerknüllen, da keine Papierform, sondern elektronisch erstellt. Yeah! Es lebe die Neuzeit! 😉

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    1. Ich sollte es auch mal probieren :).
      Es gäbe da einige Gedanken, die hervorragen zu knüllen wären. Um mein Gesicht muss ich mir keine Gedanken machen – das knüllt erschreckend erfolgreich.
      Liebe Grüße

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  6. Ich liebe Rilke. Traurig „wer jetzt alleine ist, wird es lange bleiben“ und schön „wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben“. Vielleicht auch wachsen.

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    1. Das ist eine schöne Ergänzung. Die Vorstellung zu wachen, zu lesen und lange Briefe zu schreiben klingt für mich auch schön. Wahrscheinlich weil ich es jederzeit beenden könnte und Gesellschaft suchen kann.

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      1. „Lange“ drückt für mich hier die Endlichkeit aus. Lange genug, um daran zu wachsen, aber eben nicht „für immer“.

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  7. danke fürs teilen des gedichts. es ist wirklich schön. aber ich muss gestehen, ohne kontext und das ende hätte ich die flatulenz-zeilen vielleicht auch zerknüllt.
    wow, du magst fast alle? ich beneide dich. mir geht es genau andersrum 😉

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      1. für die mischung würd ich auch plädieren. ich bin halt irgendwie ein gargamel oder ein grinch. aber es kommt auf die verfassung an. wenn ich ausgeschlafen bin kann es auch mal passieren, dass alles in rosaroten schleier gehüllt wird 😉

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  8. Eigentlich ist es doch schön, wenn etwas auch Teil der Massenkultur wird. Natürlich gibt es dann Abnutzungseffekte, aber die Mona Lisa ist trotzdem noch schön und van Gogh genial – und Rilke kann lesen und fühlen, wer mag. Das ist eine Angebot an alle, nicht nur an eine literarisch oder künstlerisch gebildete Elite.

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  9. Ich habe mich noch nicht getraut mit einem Kissen unter dem Arm in den Park zu gehen, warum eigentlich nicht ? Ich liebe dieses Gedicht auch und habe es auch schon gepostet. Kissen-Menschen, welch schöner Begriff, den Titel werde ich meinen liebsten Freunden nun verleihen !

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  10. Liebe Mitzi,

    ich habe beim Durchlesen Deines Artikels mal wieder eine Spontangänsehaut. Nicht nur wegen Rilke. Sondern ganz besonders wegen eines Kissens auf der Bushaltestellensitzbank oder dem von Herrn Meier für die Holzbänke seiner Kneipe, die ihm zu kalt geworden sind, er aber noch draußen sitzen will. Weil er da mehr sieht.

    Und wegen Deines Bernhardinergemütes. Ganz wunderschön. DANKE.

    PS: Ich liebe Wind, Sand und Sterne und Nachtflug! Und Bahlsen Schokokekse.

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    1. Dein P.S. kann ich genau so übernehmen.

      Danke für die lieben Worte. Es ist ein schönes Kompliment, Gänsehaut zu verursachen. Man (und Herr Mu) macht es mir auch leicht. So ein Kissen, einsam an der Bushaltestelle, da kommt die Geschichte von ganz alleine.

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  11. Herrlich… ein Kissen mit zu schleppen 😀 Es tut mir Leid, aber diese Tat bringt mich gerade wahnsinnig zum Schmunzeln. Wir hatten erst kürzlich Rilke in Deutsch: Denn, Herr die großen Städte sind ein sehr schönes Gedicht!

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  12. Zum Glück hast du die Kollegin nicht niedergeschlagen, liebe Mitzi, denn über ihre respektlose Assoziation musste ich schmunzeln. Ist doch besser, gegen die Melancholie der Herbststimmung anzustinken, als sie zu überhöhen, wie Rilke das in der letzten Strophe getan hat.

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  13. Ja, Rilke ist schon schmissig! Du mußt sie ja nicht gleich niederschlagen – das fällt auf und führt nur zu unbequemen Fragen. Ein wenig Arsen in den Joghurt, kleine Geschenke, die die Freundschaft erhalten (Mineralwasser – original abgefüllt in Tschernobyl) und die lockere Schraube an der Bremsanlage des präferierten Gefährts des Individualnahverkehrs.
    Rache ist ein Gericht, das am besten kalt schmeckt.

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      1. Ich empfehle dafür aus der beliebten Reihe »Pantoufles kleiner Ratgeber« den Band »Schöner sterben«! ISBN 978-3-45128-000-9, erschienen im Schwarzbuchverlag für lebensfreundliche 7,75€. 6% der Einnahmen gehen als Spende an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

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