Herr Mu gibt einen Sprachkurs

Langsam wird es kalt. Morgens an der Bushaltestelle spürt man den Herbst schon deutlich und bald werde ich wieder auf die U-Bahn umsteigen. Dann, wenn Herr Mu morgens nicht mehr auf der Bank sitzt und sich einen anderen Ort sucht, um den Tag mit einem Gespräch zu beginnen. Noch sitzt er aber da und der Wind scheint ihm nichts anzuhaben. Die dünne Jacke ist offen und seine Hand ruhig still auf dem Griff des abgenutzten Einkaufswagens. Ob er ein Gutzel mag, fragte er heute morgen den  Jungen, der neu an der Bushaltestelle ist.

Obwohl er wohl gerade erst mit der Schule begonnen haben kann, setzt er sich jeden morgen alleine neben Herrn Mu und blickt konzentriert auf seine Schuhspitzen. Da gibt es nichts zu sehen und das hat Herr Mu nach drei Wochen wohl auch erkannt. Wer neben Herrn Mu sitzt, wird früher oder später angesprochen. Heute der Kleine. Ein Gutzel verdirbt nicht den Magen, behauptet Herr Mu und hält dem Kleinen die Tüte mit Kräuterbonbons vor die Nase. Herr Mu kennt sich mit Menschen aus. Auch mit den kleinen. Die mag er besonders gern. Schade nur, dass den kleinen Menschen beigebracht werden muss, dass sie von Fremden nichts annehmen dürfen. Das hat man auch dem Lockenkopf beigebracht, denn er nimmt das Bonbon nicht. Man muss es ihm in einem anderen Land beigebracht haben, den die dunklen Augen schauen recht unsicher, als er in gebrochenem Deutsch murmelt, die Sprache noch nicht gut zu sprechen. Ich vermute, dass sich Herr Mu auch damit auskennt, wie es ist, wenn man nicht verstanden wird. Er weiß, wie wichtig Integration ist. Schließlich integriert er sich selbst jeden Tag. Er nickt und holt eine Zeitung aus dem Einkaufswagen. Langsam faltet er sie auseinander und deutet auf die Schlagzeile. „Die Nackten von RTL“ steht da in großen Buchstaben und Herr Mu lacht. Da schau, Nackerte, lächelt er und stellt pantomimisch ein paar Brüste dar. Nackerte, wiederholt er. Nackt, ohne Kleidung, gell? Er zupft an seiner Jacke und stupst das Kind an. Nackt, wiederholt der Kleine und lächelt schüchtern. Nackt, bestätigt Herr Mu und nickt zufrieden. Der Sprachkurs von Herrn Mu bleibt nicht unbemerkt.

Ob er denn spinne, fragt eine ältere Frau und setzt sich auf die andere Seite des Kindes. Er kann ihm doch nicht so einen Schmarrn beibringen, schimpft sie und schüttelt missbilligend den Kopf. Herr Mu kann missbillig dreinblickende Frauen gut ignorieren, hört ihnen aber dennoch zu. Ernster zupft er an seiner Kleidung und benennt die einzelnen Stücke. Brav wiederholt der Kleine die Worte und wirkt dabei ganz konzentriert und ernst. Zu ernst für Herrn Mu, der gerade bei der Hose angelangt ist. Er grinst und greift in seine Tasche. Ob der Kleine wisse, was er feines in seiner Hose habe, will er wissen. Ein ganz ein leckeres Gutzerl hat in der Hose. Ob das Kind das denn gerne möchte? Das Gutzel aus der Hose…und dann merkt er selbst, wie verstörend das für einen Vorübereilenden klingen mag. Ganz ohne Sprachkurs und ganz ohne Erwähnung seiner Hose wird mir die Tüte hingehalten. Weil ich keine Bonbons mag schüttle ich den Kopf und Herr Mu stöhnt auf. Ob denn jetzt alle, spinnen, fragt er. Warum nimmt den keiner was, wenn es ihm angeboten wird. Die Bonbons sind mit Honig. Feine Kräuterbonbons mit Honig. Genau richtig für das Herbstwetter. Gut für den Hals und wenn mans nicht gleich mag, dann soll man es doch einfach einstecken. Wenn einem schon was geschenkt wird, sagt Herr Mu.

Herr Mu hat recht. Kräuterbonbons sollte man sich im Herbst unbedingt schenken lassen. Wir nehmen alle eines und freuen uns darüber. Der Kleine schaut unsicher zu mir und ich nicke. Anscheinend darf man auch von fremden Frauen, wenn sie das Alter der Mutter haben, die Erlaubnis einholen. Wir lutschen zu viert an unserem Bonbon und auch Herr Mu freut sich. Da werden wir schauen, wie gut der Honig und die Kräuter wirke, lacht er und verteilt großzügig die Reste seiner Tüte. Dann geht er. Der Bus hat Verspätung und ohne Herrn Mu haben wir uns nichts mehr zu sagen. Nur die alte Frau murmelt vor sich hin, dass es ein Glück sei, dass er Gutzl verteilt und die Kinder nicht auffordert mitzukommen um seine Katze anzusehen. Aber so dumm, dass er ein Kind mit nach Hause nimmt, ist Herr Mu, dann doch nicht. Es wäre vermutlich harmlos. So harmlos wie fast alles ist, wenn man nicht wüsste, dass es manchmal eben doch nicht harmlos ist. Wie soll ein Kleiner unterscheiden ob etwas gut oder nicht gut ist? Er wird es lernen. Wird es lernen müssen.

Der kleine Junge ist übrigens Franzose, nicht wie Herr Mu vermutete, ein Flüchtlingskind. Ich hörte ihn im Bus mit einem anderen reden. Am Harras gibt es eine französische Schule. Dort verteilt heut einer Kräuterbonbons mit Honig. Hoffentlich sagt er nicht, woher er sie hat. Aus Herrn Mus Hose….das würde missverstanden werden. Leider. Denn als ich ein Kind war, waren die besten Bonbons meistens in den Hosentaschen alter Männer zu finden. Harmlose alte Männer, die sich freuten, wenn sie einem Kind eine Freude machen konnten. Und immer waren sie besser als die, von alten Frauen. Die schleppten sie schon zu viele Monate in den Tiefen ihrer Handtaschen mit sich herum.

20 Gedanken zu “Herr Mu gibt einen Sprachkurs

  1. das misstrauen ist so ein zweischneidiges schwert. leider ist es notwendig, um schlimmes zu verhindern, aber es verdirbt einem soviel. ich ärgere mich oft selbst über mich und mein misstrauen, das mir bestimmt auch schon viele schöne momente verdorben hat.

    Gefällt 4 Personen

      1. es hilft im kleinen. ich hatte so ein erlebnis mit einer uhr bei einem kleinen juwelier. man muss so ein misstrauen, wenn es aufkommt, einfach hinterfragen.

        Gefällt 2 Personen

  2. Seit längerer Zeit lese ich schon still bei Dir mit, liebe Mitzi. Und immer wieder schaffst Du es, mich zum Lachen zu bringen, und manchmal werde ich nachdenklich, traurig oder gerührt. Dein Herr Mu wird von mir immer mehr geliebt. Und ich finde es schade und traurig, wie weit das Misstrauen schon in unserer Gesellschaft langsam unser denken bestimmt. Und der Herr Mu erinnerte mich heute an Onkel Franz aus Oppeln. Nur gab es damals keine Bonbons mit Honig, sondern „nur“ klebrige Himbeer-Bonbons. 😉
    Ich liebe sie heute noch. Selbst nach fast 50 Jahren. 🙂

    Aus dem Archiv: Franz aus Oppeln


    Ganz liebe Grüße an Dich und an Herrn Mu!

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Traumschöpfer, Du bist mir bereits aufgefallen und ich freue mich, dass jemand in den alten Geschichten von mir stöbert. Noch mehr, wenn sie gefallen.
      Herr Mu ist auch einer meiner liebsten Menschen in unserem Viertel. Die Erzählung von Franz hätte ihm sicher gefallen. Besonders das Verteilen der Bonbons, weil Teilen, das muss man. Das bringt Freude, sagt er.
      Liebe Grüße

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar