Das fragile Gleichgewicht von Kirschen. U-Bahn Gedanken

Sie steigen jeden Morgen an der Haltestelle Donnersberger Brücke ein und fahren bis zu den Siemenswerken. Ich stelle mir vor, dass sie beide im gleichen Unternehmen arbeiten und sich dort, vor vielen Jahren auch kennen gelernt haben. Damals hat man ihnen vielleicht beiden angesehen, dass sie frisch verliebt waren. Heute sieht man die Zuneigung nur noch ihr an. Jeden Morgen legt sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel und jeden Morgen schiebt er sie weg, noch bevor sich die Türen der Bahn geschlossen haben. Ihr Kopf lehnt jeden Morgen für einen kurzen Moment an seiner Schulter. Nicht einmal bis zur nächsten Haltestelle hält er es aus und reckt und räkelt sich so lange, bis sie sich wieder gerade hinsetzt und an ihm vorbei aus dem Fenster blickt. Sie sagt ihm etwas und oft reagiert er nicht einmal. Dann ist der Ausdruck in ihren Augen traurig und er sieht es nicht, weil er die Zeitung liest ohne aufzusehen.

Einer liebt immer mehr hast du mir einmal gesagt. Die Liebe bei einem Paar ist nie gleichmäßig verteilt. Immer ist es einer, der mehr, und wenn es nur ein winziges Stück ist, als der andere liebt. Vielleicht verschiebt es sich mit der Zeit und die Aufteilung  verändert sich, aber nur in den seltensten Fällen ist sie gleichmäßig verteilt. Die Liebe. Ich fragte dich, wie es bei uns ist und sah wie das leichte Lachen, dass deine Mundwinkel fast immer umspielte, verschwand. Jetzt in diesem Moment würdest du mich weniger als sonst lieben. Deine Liebe sei mit der letzten Kirsche, die ich mir in den Mund steckte, um 0,0000623 Prozent gesunken. Es sei unverzeihlich aus einer Schüssel mit nur zwanzig Kirschen – du hattest sie gezählt – fünfzehn zu essen und dem geliebten Mann, der fast dreißig Kilo mehr wog, nur eine Handvoll übrig zu lassen. Meine Wange lag auf deinem Bauch, in dessen Inneren sich noch keine einzige Kirsche befand und ich überlegte ob 0,0000623 Prozent wenige Liebe verschmerzbar wären. Ich bin nicht gut in Mathematik, aber ich riskierte das Sinken deiner Liebe mit einer weiteren Kirsche. Ob du mich nun um 0,000065415 Prozent weniger lieben würdest, wollte ich wissen und das Lächeln erschien wieder in deinen Mundwinkeln. Nein, jetzt würdest du mich um ein ganzes halbes Prozent mehr lieben, weil du mutige und verfressene Frauen mochtest. Ein ganzes halbes Prozent mehr ist eine unglaubliche Steigerung und ich erinnere mich, dass ich dir die letzte Kirsche in den Mund geschoben habe um keine erneutes Absinken zu riskieren.

Die Intensität unserer Liebe variierte nur, wenn wir uns gegenseitig Kirschen oder die roten Gummibärchen wegfutterten. Wenn dich meine Hand auf deiner Brust störte, dann hast du sie genommen, kurz an deine Lippen gedrückt und erst dann zur Seite geschoben. Jeden Abend vor dem Einschlafen. Weil meine Finger zuckten wenn ich zu träumen begann und dich das Kitzeln wieder weckte. Hättest du begonnen sie einfach so zur Seite zu schieben – es hätte mich beunruhigt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Beiden die täglich gemeinsam ein- und aussteigen streiten können. Manchmal unterhalten sie sich und wenn sie sich nicht einig sind, ist  immer sie es, die irgendwann verstummt. Wenn man sich liebt, kann man gut streiten, hast du irgendwann einmal gesagt und musstest nicht extra erwähnen, dass der nötige Respekt mit der Liebe einher geht. Wir konnten uns gut streiten. Nicht oft, aber wenn es nötig war, dann konnten wir es. Eine ganz Nacht lang konnten wir diskutieren ohne uns zu verletzen und ohne die Angst, das eine andere Meinung das Gleichgewicht der Zuneigung verschieben könnte. Das Paar in der Bahn kann es kaum. Man kann nicht streiten, wenn man Angst hat, dass durch ein falsches Wort das fragile Gerüst einer Beziehung ins Wanken gerät. Sie, die an der Donnersberger Brücke einsteigt, sieht aus, als hätte sie ständig Angst um ihre Beziehung.

40:60 frage ich dich in Gedanken und sehe dich nicken. Der Unterschied ist zu groß würdest du sagen und sie nicht mehr beobachten, weil es schöneres gibt. Vielleicht hast du recht. Die Sonnenstrahlen brechen sich in den Blättern und werfen Schatten auf die Seiten meines Buches. Heute Abend kaufe ich mir Kirschen. Gerne würde ich sie mit dir teilen und vergesse fast auszusteigen, weil mir dein Schmunzeln so deutlich vor Augen ist. Ich würde sie nicht teilen und du würdest es wissen. Bis auf eine würde ich alle selbst essen. Nur die letzte Kirsche gehört noch immer dir. Eine bleibt immer in der Schüssel zurück. Ein Absinken deiner Liebe riskiere ich auch post mortum nicht.

Morgens ist sie immer weg. Die letzte Kirsche.

33 Gedanken zu “Das fragile Gleichgewicht von Kirschen. U-Bahn Gedanken

  1. Ein wunderbarer, melancholischer Text, voller Liebe für das vergangene Du.

    Ich glaube nicht daran, dass einer immer mehr liebt, weil ich es anders erlebe. Die Schwankungen sind nur die einer Wippe. Mal ist der Eine oben, dann der Andere. Komplementär sozusagen.
    Die beiden in der Bahn lieben sich nicht, sie brauchen sich bloß.

    Gefällt 5 Personen

  2. Wie traurig für die Dame. Der Text betrübt und hängt nach. Und wärmt trotzdem das Herz: Ungerechte Aufteilung beim Essen und „von deinem Teller schmeckt es besser“ ist bei uns ein häufiges Thema und es freut mich für dich, dass du mit diesem besonderen Mann trotz aller Trauer im Nachhinein so bezaubernde Momente verbringen durftest.

    Gefällt 2 Personen

  3. Liebe Mitzi!
    Es bleibt eindeutig festzuhalten: Mit Ihnen ist IMMER gut Kirschen essen! 🍒🍒🍒🍒🍒🍒🍒🍒🍒…
    Herzliche Grüße
    Mallybeau M. 🐂

    Gefällt 1 Person

  4. Einmal mehr scharf und einfühlsam beobachtet und brillant in Worte gefasst!
    Aber ist es wirklich möglich, über das Lieben anderer ein Urteil zu fällen? Ist es Liebe, wenn sie nach all den Jahren immer noch nicht respektiert, dass er in der U-Bahn keine Hand auf dem Schenkel haben möchte? Ist es schon Nicht-Liebe, wenn er diese Hand zurückweist, ohne sie jedesmal vorher zu küssen 😉 Was wissen wir schon, was tatsächlich in den Herzen der Menschen vorgeht und wie sie sich verhalten werden, wenn es wirklich zählt? Und was wissen wir wirklich über unsere eigenes Lieben? Lieben wir wirklich, oder lieben wir jeweils nur uns selber durch den anderen?
    Danke für diesen anregenden Text!

    Gefällt 4 Personen

    1. Liebe Beat(e), du hast sehr schön zusammen geschrieben, was völlig richtig ist. Ein kurzer Blick reicht nicht um eine Beziehung zu beurteilen und ich würde meine eigene nie leichtfertig wegen banaler Kleinigkeiten auf das Spiel setzen. Es sind Momentaufnahmen und die Gedanken, die mir in diesem Moment durch den Kopf schießen. Ich denke ein Großteil meiner „Urteile“ und Vermutungen sind schlicht falsch und die armen Personen stehen stellvertretend für viele andere, auf die es möglicherweise zutreffen mag.

      Dein Gedanke mit der Hand, die täglich etwas tut, was nicht erwünscht ist, gefällt mir. Die eigentlich schöne Geste verliert bei längerem nachdenken an dem was ich ihr ursprünglich angedichtet habe.

      Danke für den schönen und interessanten Input.
      Liebe Grüße

      Gefällt 2 Personen

  5. Was für ein irre schöner Text! Mehr davon..!!!
    Er passt thematisch genau zu meiner Theaterproduktion im November : „Wieviel Kafka verträgt deine Beziehung“- ich werde dich einladen, da du wohl auch in München bist 😊
    Herzliche Grüße aus dem Westend
    Simone

    Gefällt 1 Person

  6. Liebe Mitzi,
    Sie haben das sehr richtig erkannt, dass das Gleichgewicht der Liebe in der U-Bahn gestört war. Es fehlte dort sogar eine sehr große Portion Liebe, auch wenn die Frau wohl mehr Liebe zeigte und mehr in die gesamte Waagschale der U-Bahn gab.
    Was Sie scheinbar nicht bemerkt haben, dass gerade Sie mit DIESER U-Bahn fahren mussten, um das Gleichgewicht der Liebe im Universum wieder herzustellen. Durch Ihre Anwesenheit bekam die gesamte U-Bahn so viel Liebe und Menschenliebe, dass sogar noch weitere Griesgrame, Ignoranten und Lieblose in anderen Abteilen gänzlich kompensiert wurden.
    Nur so kann eine U-Bahn ihr Ziel erreichen. Ihre Schienen hat sie nur zur Sicherheit, falls sie ausnahmsweise mal ohne Mitzi Irsaj oder ihre U-Bahngedanken unterwegs ist.
    Gruß Heinrich

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Heinrich, ich freue mich sehr über Ihre allerliebsten Worte und bin doch froh um die Schienen. Selbst mir Ihrer Hilfe und Lebensweisheit im Gepäck würde mich diese Verantwortung schrecken. Ich gebe mein Bestes und wenn es eng wird, helfen Sie mir aus, ja? Ich erinnere mich an Ihre Kontakte zu Mond und Sonne.
      Herzlichst grüßt (verlegen)
      Mitzi

      Gefällt 1 Person

  7. Eine traurige Beobachtung, die aber sicher sehr viele Beziehungen spiegelt.
    Nicht immer in dieser Rollenverteilung.
    Anders dagegen deine Kirschliebe, die sicher bleiben wird! 🙂

    Das ist schon ziemliches Können, mit dem letzten Satz eine solche Gänsehaut
    bei der Leserschaft zu produzieren, liebe Mitzi!! chapeau!!

    Liebe Grüße,
    Silbia

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar