Herr Meier schimpft. Frau Obst auch.

Ich habe einen neuen Freund. Zugegeben es ist eine etwas einseitige Beziehung. Mein neuer Freund weiß nichts von mir. Hat keine Ahnung dass es mich gibt, und wenn er es wüsste oder zu denken fähig wäre, dann wäre es ihm egal. Mein neuer Freund ist der Mars, der jeden Abend von meinem Balkon aus zu sehen ist. Wie so oft, fallen einem die Dinge erst auf, wenn man über sie stolpert. Oder wenn man, wie in meinem Fall, nach 20 Jahren die Sehstärke kontrollieren lässt. Ich besitze jetzt Kontaktlinsen und bin fasziniert davon, dass ich mitten in der Stadt mit bloßem Auge Planeten erkennen kann.  Mein neuer Freund lenkt mich ab. Das ist auch dringend nötig, da in meinem Haus momentan der Wahnsinn um sich greift. Das ist nicht wirklich etwas Neues. Im Haus Nummer 24 befindet sich schon länger ein liebevoll zusammen gestelltes Kuriositätenkabinett, aber in den letzten Tagen geben wir so richtig Gas.

Die Fassade wird saniert und die Balkone innen und außen gestrichen. Das bedeutet dass sie pünktlich zum ersten Juli leer geräumt werden müssen. Wir wissen das seit Anfang des Jahres und doch überraschte es uns, dass der Juli dieses Jahr schon Mitte des Jahres beginnt. Leichtsinniger Weise kauften wir noch im April neue, sperrige Balkonmöbel, pflanzten im Mai Bäume in 50 Kilo schwere Terrakottakübel und schraubten im Juni eine Rankhilfe an die Wand, damit die selbst angesäten Bohnen besser gedeihen.  Wir haben all das einzig und alleine deswegen gemacht, um uns jetzt darüber aufregen zu können, dass die neuen Balkonmöbel nicht in den Keller passen, die Terrakottakübel zu schwer für den Wohnzimmerparkett sind und die Bohnen noch nicht reif sind. Über all diese Dinge könnte man sich leise still ärgern und sich seine eigene Dummheit bewusst werden. Das machen wir aber nicht. Wir stellen uns dann, wenn möglichst viele Personen die stillen Abendstunden noch einmal genießen wollen, bevor das Gerüst aufgebaut wird, auf den Balkon und legen los. Allen voran Herr Meier. Herr Meier hat bis auf ein Windspiel nichts auf seinem Balkon. Ich weiß das, weil ich mich ab und zu über die Brüstung beuge,  zu ihm nach unten sehe und  bei dem monotonen Klimpern Mordgedanken hege. Dass er nichts in den Keller räumen muss, scheint Herrn Meyer zu stören. Wenn alle jammern, will er auch. Deshalb lamentiert er seit einigen Abenden über den, Zitat: Scheißdreck, den wir zu erwarten haben. Mit etwas sanfteren Worten empfindet das auch das russische Ehepaar über ihm so. Ihnen hat man bereits gesagt dass sie ihre drei Schachteln Zigaretten am Abend für die nächsten Wochen gefälligst in der Wohnung rauchen sollen, weil sich der Rauch in dem feinen Netz, das über das Gerüst gespannt werden wird, fest setzen würde. Präventiv brauchen Sie aktuell gefühlte sechs Schachteln Zigaretten am Abend, wobei jeder einzelne Zigarette von Herrn Meier kommentiert wird. Er hat vor einigen Jahren nämlich aufgehört zu rauchen und empfindet jeder Zigarette in seiner Nähe als pure Provokation. Das junge Mädchen im Dritten Stock, beteiligt sich am Schimpfen. Nur dass, sie über die Ausdrucksweise von Herrn Meier schimpft. Unsere Russen lächeln abwechselnd nach oben und unten und kümmern sich nicht. Auch die Kneipe unter mir legt Gelassenheit an den Tag.  In der Kneipe ist EM. Nur EM. Gerüste sind Wirt und Gästen egal. Auch Frau Obst steht abends nicht am Balkon. Sie schimpft ohne Stimme, indem sie seit einigen Wochen Zettel mit Verhaltensregeln zum Leben mit dem Gerüst verteilt. Da heißt es zum Beispiel: „Stellen Sie Ihr Gerümpel vom Balkon bloß nicht in den Hausflur. Das ist verboten.“ oder „Das Klettern vor den Fenstern ist zu unterlassen.“ Letzteres empfinde ich als besonders schade. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich Einrichtungen der Nachbarn anzusehen.

Ähnliche Zettel kleben an dem vermeintlichen Gerümpel im Hausflur. Zum Beispiel auf dem Zwillings Kinderwagen der bei den Briefkästen steht. Der steht dort nur, weil momentan  der Aufzug kaputt ist und es für die Mutter leichter ist  ihre zwei kleinen Kinder auf dem Arm in den vierten Stock zu schleppen. Herr Meier sagte ihr bereits, dass es sinnvoller sei, die Kinder nacheinander zu bekommen. Ich vermute, dass die Mutter es war, die eine hübsche Karte mit einem Sinnspruch über friedliche Nachbarschaft an das weiße Brett geheftet hat. Vielleicht war sie aber auch diejenige, die unter den Zettel von Frau Obst die Frage geschrieben hat was genau weg soll. Der Kinderwagen oder die Kinder. Wir Nachbarn lassen den Zettel unberührt, in der Hoffnung auch Herrn Meyer noch etwas dazu schreiben wird. Die Studenten auf dem Dachgeschoss haben ihren Beitrag schon geleistet indem sie aus Kronkorken ein Peace Zeichen an die Wand des Müllraumes im Keller geklebt haben. Glaubt man dem Hausmeister wurde dafür Silikon verwendet. Die gute Seele unseres Hauses war es auch, der letzten Montag brüllend durch das Haus lief und sich erkundigte welcher Hornochse Bohnenranken um das Treppengeländer gewickelt hat. Ich weiß es, werde es ihm aber nicht sagen und heute Nacht meinen Basilikum dazu stellen. Bei der Gelegenheit lese ich die neuen Zettel am weißen Brett und bringe mich auf den neusten Stand. Letzten Mittwoch klebte dort ein Post it von einem Bewohner des Hinterhauses, deren Fassade erst nächstes Jahr renoviert wird: „Biete Balkonfläche für Terrakottatöpfe, Kräuter oder Möbel. 50 Euro pro Woche.“ Darunter wüste Beschimpfungen über Wucher und erste Verhandlungsversuche.

Ich gebe uns noch eine Woche. Dann haben wir hier Krieg. Ich beteilige mich nicht. Mein Gerümpel habe ich bereits zu meinen Eltern verfrachtet. Ihren eigenen Balkon können sie jetzt nicht mehr betreten, aber sie freuen sich sicher, mir etwas Gutes zu tun. Dass ich von ihrem Balkon aber den Mars nicht sehen kann, nehme ich ihnen übel.

 

 

 

58 Gedanken zu “Herr Meier schimpft. Frau Obst auch.

  1. Liebe Mitzi!
    Glücklicherweise besitzen Sie nun Kontaktlinsen, so können Sie auch vom Balkon Ihrer Eltern Kontakt mit dem Mars aufnehmen, eine moderne Sehhilfe muss das schließlich bewerkstelligen können.
    Ich nehme lieber Kontakt zu einem Mars-Riegel auf, obwohl, Snickers ist mir lieber, die Erdnüsse lassen sich schön mit meinem Kuhkiefer zermahlen, nur das Karamell ist etwas zäh…
    Weiterhin guten Durchblick!
    Herzliche Grüße von der Alm
    Mallybeau M. 🙂

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    1. Sie haben Recht, liebe Mallybeau. Wenn die Linsen das nicht schaffen, werde ich sie umgehend zurück tragen.
      Bei den Schokoriegeln kommen wir uns nicht in die Quere. Ich nehme die Bountys 🙂
      Herzliche Grüße
      Ihre Mitzi

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  2. Einer der glücklichsten Tage meines Lebens war damals, als wir in ein Einfamilienhaus gezogen sind, bei dem „Nachbarn“ etwas war, das man nur noch über den Gartenzaun hinweg wahrnehmen konnte… ich gedenke übrigens, mir ein 10 Hektar großes eingezäuntes Waldgrundstück zu kaufen mit einem Häuschen GENAU IN DER MITTE. Aber wahrscheinlich randalieren dann nachts die Wildschweine…

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    1. Die Wildschweine würde ich in Kauf nehmen.
      Obwohl ich momentan das Chaos noch genieße, kann ich mich mit dem Gedanken „ohne Nachbarn“ gut anfreunden. Ab und zu brauche ich meine Auszeit, sonst vergeht mir das Lachen.

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      1. Ich frage mich immer, wie lange ich das wirklich aushalten würde. Im Moment ist der Gedanke jedenfalls total verlockend. Andererseits – worüber soll man dann schreiben??? 😉

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      2. Die Schnecken sind unglaublich langweilig. Ist echt der Hammer, WIE langweilig die sind. Aber ihr Abendbrot finde ich ziemlich spannend. Ich meine, wer isst schon Pfirsich mit roter Beete?

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      3. Interessante Kombination. Ich hatte letzte Woche bei einer Wanderpause zwei Weinbergschnecken beobachtet – hatte einen ähnlichen Effekt wie in ein Aquarium zu schauen. Ich mag die Kleinen.

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      4. Ich hab eine im Garten, die ist noch größer als meine Achatschnecken. Neulich war sie im Vorgarten und ich hätte sie beinahe überfahren. Man, hab ich einen Schreck bekommen. Blöde Schnecke – die muss doch wissen, dass ich zwei Stunden später nach Hause komme!!!

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      5. Bisher hat es geklappt – sie ist wirklich uralt (sieht aus wie ein riesiger Stein) und ich hab sie ja auch nur BEINAHE überfahren. Sie muss das genau ausgerechnet haben!

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      6. Deshalb frag ich – Achatschnecken wurden ursprünglich nicht zum Knuddeln gezüchtet (ich habe auch heute noch Schwierigkeiten damit, die zu knuddeln), sondern zum Essen. In einigen Ländern ist die Rasse, die ich hier habe, besonders beliebt, in anderen allerdings isst man sie gar nicht, weil sie eine „Fehlfarbe“ haben…

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  3. Ich glaube ich ziehe wieder in ein Mehrfamilienhaus. So lustig, was da alles passiert und über was man schreiben kann. Ich bin begeistert. Hier passiert ja nichts, ausser dass man sich über den wild wuchernden Bambus der Nachbarn aufregen kann (aber nicht tut, weil besagt Nachbarn gute Freunde sind und wir Bambus mögen).

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    1. Verschrei es nicht ;).
      Von außen betrachtet ist es ja amüsant, aber wenn man zufällig in den Mittelpunkt der Streitigkeiten rückt…..dann hilft nur Deckung.
      Mit dem Bambus hätte ich auch kein Problem. Mit überwuchernden Brombeerhecken (wenn sie ordentlich Früchte tragen) auch nicht.

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  4. Uh … Es geht doch nichts über eine harmonische Nachbarschaft im Mietshaus. Die Idee mit den Bohnenranken finde ich formidabel. Du musst nur aufpassen, dass die Kleinkinder nicht von den rohen Bohnen naschen. Das ist ungesund. 😉

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  5. Also…Bohnenranken um das Treppengeländer muss total Schick aussehen….für ein Paar Stunden, da fehlt nur der Tarzan der Schreiend von Treppengeländer zu Treppengeländer springt….ich geh mal davon aus das der Hausmeister nicht mehr so gelenkig ist….

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  6. Herrlich, ich habe mich erinnert, an
    unsere Renovierung vor 2 Jahren. Es ist so lebensnah. Meine Nachbarn kamen mir vor, wie in einem Stück von Karl Valentin. Nur das Leben kann solche Geschichten erzählen. Jeder für sich hat enorme Phantasien entwickelt, wenn er von der Renovierung erzählte. Für meinen Ehemann allerdings war es eine aufregende und abwechslungsreiche Zeit. Musste er doch täglich den Bau beaufsichtigen. Damit nicht genug. Am Abend wurde mir alles ausführlich erklärt. Vorallem was doch diese dummen Arbeiter so alles falsch gemacht haben. Ach liebe Mitzi, hätte ich doch damals auch einen Mars gehabt.

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    1. Die Aufsicht über Handwerker kann tagesfüllend sein. Alles erzählt zu bekommen….darauf könnte ich allerdings ebenfalls verzichten. Du hast es überstanden und ich hoffe für uns beide, dass es dann für die nächsten Jahre auch reicht.
      Wenn es bewölkt ist, werde ich die Kneipen testen und es mir dort gemütlich machen.

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      1. Ja des einen Freud, des anderen Leid. Beim nächsten Mal fahre ich allein in Urlaub. Mein Mann ja nicht, der muss die Übersicht behalten. Viel Geduld, aber scheinbar auch viel Spaß mit Deinem „ehrenwerten Haus“.
        Halte uns auf den laufenden!

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      2. Das klingt nach einem guten Plan. Du wirst dann sicher per WhatsApp auf dem laufenden gehalten. Ein Kompromiss der ok ist.
        Du wirst den Wahnsinn mitbekommen 😉

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  7. Oh, wie köstlich!! Ich freue mich zunächst einmal sehr mit dir, über deine neue Sehkraft. Ich habe sie nicht (hatte sie auch nie) und vermisse sie sehr. Leider ist da nix mehr zu machen – in meinem Alter und sowieso.. :-/
    Naja die Zwillinge besser nacheinander zu bekommen, ist ein seltsamer Gedanke. Ich stelle mir grad vor, ein Kind ist geboren und das zweite bleibt noch ein Weilchen – putzt sich noch etwas raus und kommt dann nach 1/2 Jahr… wäre das besser, Herr M.?!

    So eine Zettelwirtschaft ist sicher spannend, wenn man nicht so direkt betroffen ist. Hier schreibt man nicht einmal Zettel oder nur im äußersten Notfall, wenn die katze des nachbarn durch das gekippte Fenster in die Wohnung kommt und dort alles zukackt und auch sonst alles im und ums haus derart markiert… Ich konnte den Mitmieter irgendwie verstehen, dass er das nach Monaten einmal äußerte…
    Ich mag die Mäuse in der Tiefgarage und vor der Haustür auch nicht gern, in der Wohnung wäre ich deutlich kriegsbereiter!

    Ich würde dir ja einen Platz zwischen meinen Pflanzen auf dem Balkon anbieten, liebe Mitzi,
    aber von M bis FR ist es definitiv kein Katzensprung!

    Liebe Grüße.
    Silbia

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    1. Danke für das Angebot :).
      Ich glaube Herr Meier ist für einen geregelten Abstand von zwei Jahren. Hinterfragt habe ich es aber nicht. An sich sind die Zettel ja ein ganz nettes Kommunikationsmittel. Dann aber auch mit Unterschrift und in einer halbwegs freundlichen Art. Katzenhäufchen müssen ja wirklich nicht sein und da würde ich auch vorsichtig nachfragen ob der Besitzer wenigstens zum putzen kommt.

      Du hast die Bilder im Herzen, Silbia. Sonst könntest du sie nicht in so schöne Worte verpacken. Außerdem reicht bei Sternen manchmal auch das Wissen, dass sie immer weiter funkeln. Ob wir sie nun sehen oder nicht.
      Liebe Grüße
      Mitzi

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      1. Oh ja! Wie hat ein alter Freund von mir einmal gesagt: „Verwechsle nie Heiligkeit und Perfektion!“
        Heiligkeit – wenn es sie denn wirklich gibt – besteht wohl gerade darin, mit der Nicht-Perfektion – der eigenen und der der anderen – umzugehen.

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  8. Haha, wie herrlich!
    Da bin ich gleich sehr froh, dass ich hier am Haus nicht getan wird. Wobei ich ja nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn sie das Haus um 90° drehen und Balkone anbauen würden. Aber dann könnte ich Vega nicht mehr sehen, meinen nächtlichen Freund – der sich sogar ohne Sehhilfe blicken lässt. Weswegen ich ihn anfangs fälschlich für einen stillstehenden Hubschrauber oder Ähnliches hielt.

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    1. Vielleicht lässt sich das Drehen vermeiden, aber die Balkone dennoch anbringen. In meiner letzten Wohnung war es zehn Jahre lang geplant. Dann zog ich aus und sie haben noch immer keine. Allerdings war das Haus so harmonisch langweilig, dass es mich wohl eh in Richtung Chaos gezogen hätte.

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  9. Liebe Mitzi,
    spätestens jetzt, weiß Ihr neuer Freund der Mars, dass Sie ihn in Ihren Freundeskreis aufgenommen haben! Wenn er Ihren Artikel gelesen hat, wird er neugierig etwas näher kommen, um diese liebenswerte Frau betrachten zu können. (Der Mars sieht nämlich nicht so besonders gut und hat leider noch keine Kontaktlinsen bekommen können, weil kein Optiker sich in ein Raumschiff traut und der Marsianer hatte keine bei sich, die er ihm hätte überlassen können.)
    Wenn er dann etwas größer am Himmel steht, werde ich ihn auch endlich mal sehen können. Denn ich habe den Mars noch nie gesehen. Ob das an meiner Sehschwäche liegt, oder daran, dass ich außer Mond und Sonne keine Sterne zuordnen kann, ist nicht ganz sicher, aber nun ja nicht mehr wichtig!
    Gruß Heinrich

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    1. Lieber Heinrich, bei Gelegenheit zeige ich ihnen den Mars, dann finden Sie ihn mit einem ganz normalen Fernglas immer wieder.
      Vielen Dank für die charmanten Worte – Sie könnten auch die Sonne um den Finger wickeln.

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    1. Der Flughafen…..stimmt….da ist doch noch so eine ABM Maßnahme am Laufen. Ich denke mal, dass er irgendwann als Spielplatz umfunktioniert wird. Für Politiker zum Beispiel….ach ne, ist er ja schon.

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