Ein Stück Unendlichkeit

Ich liege auf der Holzbank vor der Hütte und schaue in den Sternenhimmel. Hier oben ist es dunkler als in der Stadt. Nicht nur, dass man mehr Sterne sieht, sie funkeln auch um einiges heller und scheinen näher zu sein. Mit jeder Minute, die man in die Dunkelheit starrt werden es mehr. Den großen Wagen kenne ich. Auch den Jupiter finde ich schnell und Orion würde ich an seinem Gürtel erkennen, wenn er zu sehen wäre. In dieser Nacht zeigt er sich nicht. Der Sternenhimmel auf meiner Lichtung ist von den Wipfeln der Fichten, Eichen und Buchen begrenzt. Obwohl ich irgendwann nachts in einer Wüste in den Sternenhimmel blicken möchte, bin ich froh, hier nur einen Teil der Unendlichkeit über mir zu haben. Bei zu großer Weite verliere ich mich. Ein Stück Unendlichkeit dagegen, ist genau richtig.
Als alle eingeschlafen waren, bin ich noch einmal aufgestanden und nach draußen gegangen. Barfuß – das ist wichtig, weil ich das warme Holz der Bank unter mir spüren möchte, wenn über mir ein Stück Unendlichkeit schimmert. Ich bin nicht alleine, dass ist man hier nie. Eine Siebenschläfer Familie läuft über die Stromleitung, Glühwürmchen imitieren vom Himmel gefallene Sterne und überall im Wald raschelt es. Ich bin ein Angsthase, aber hier in der Dunkelheit fühle ich mich geborgen. Solange noch irgendjemand im Haus schläft, bin ich gerne alleine draußen. Seltsam, dass ich gerade die Unendlichkeit nicht teilen möchte. Sie würde für alle reichen.

„Seit Beginn der Urgeschichte sind rund hundert Milliarden menschliche Wesen auf Erden gewandelt. Eine sonderbare Zahl, denn durch einen merkwürdigen Zufall gibt es etwa hundert Milliarden Sterne in unserem begrenzten Universum der Milchstraße. Also scheint für jeden Menschen, der je gelebt hat, in unserm Teil des Alls ein Stern.“ So schreibt Clarke im Vorwort seines Buches Odyssee 2001. Ein schöner Gedanke. Könnte ich mir einen Stern aussuchen, dann würde ich Beteigeuze, die Schulter Orions, nehmen. Vor einigen Jahren erzählte ich es einem und er lachte, weil er wusste, dass ich einen Stern wählen würde, der gut zu erkennen und einfach wieder zu finden sei. Für ihn hatte ich Riegel, den Fuß Orions, gewählt. Er bat mich zu tauschen, da seine Schultern breiter als die meinen seien, aber ich war stur. Auch seine Füße waren größer als die meinen und Standfestigkeit erschien mir wichtiger, da wir uns eh Schulter an Schulter befanden, wenn ich mich zwei Stufen über ihn stellte. Damals nickte er und jetzt wo er nicht mehr da ist, sind es Beteigeuze und Riegel für die nächsten 13.000 Jahre noch immer. Danach ist Orion von Mitteleuropa aus nicht mehr zu sehen. Vermutlich denkt dann aber auch niemand mehr an uns. Vielleicht suchen wir uns dann einen anderen Stern oder ich weiß, welchen Stern er sich selbst gewählt hätte. Clark schreibt weiter, dass jeder dieser Sterne in unserer Milchstraße eine Sonne ist. „Oft eine hellere und herrlichere als der unsere kleine Sonne. Und viele – möglicherweise die meisten – dieser entfernten Sonnen besitzen Planeten, die sie umkreisen. Fraglos gibt es daher genügend Land im All, um jeden Typ menschlicher Spezies, vom ersten Affenmenschen bis zu uns, seinen eigenen privaten Himmel – oder seine eigene private Hölle finden zu lassen.“ Für eine Nacht waren wir Beteigeuze und Riegel – sie waren ja genau über uns. In allen anderen Nächten, befanden wir uns in einem anderen Teil des Universums. Irgendwo da oben gibt es zwei Sterne, die sich ganz nahe sind aber doch sehr unterschiedlich. Ich glaube sie sind weit weg von der Erde, denn die mochte er noch nie und ich bin in etwa 40 Jahren flexibel genug mir einen anderen Teil der Milchstraße anzusehen.

Um ehrlich zu sein, hatte ich Beteigeuze eh geklaut. Den hat vor Jahren schon der klügste meiner Freunde besetzt und das lange bevor ich per Anhalter durch die Galaxis gelesen habe. Zwei Tage später liege ich wieder auf der Bank vor der Hütte und schaue in die Sterne. Es ist bequemer, weil ich mich an den Klügsten meiner Freunde lehne. Heute ist es gut, dass es nicht still ist. Ich weiß, dass ein Stichwort reicht und er mir von faszinierenden Dingen erzählt. Von Laserbetriebenen Sonnensegeln, den Grenzen der Zeit oder den alten Sagen über Orion. Meine Freund plappern durcheinander und ich höre ihnen gerne zu. Hier unter dem kleinen Stück Unendlichkeit habe ich alles. Die Erinnerungen an all die Tage und Nächte, die ich hier oben verbracht habe. Jeder Holzbalken riecht nach Freundschaft und Familie, mit jedem Glas im Regal wurde schon auf etwas angestoßen und auf den Betten und Bänken wurde sich wichtiges und unwichtiges erzählt. In diesen Tagen ist Neues dazu gekommen und das Lachen wird sich in den Bodenbrettern festsetzen und die Treppenstufen werden sich jeden einzelnen Fußabdruck merken. Hier oben unter dem kleinen Stück Unendlichkeit ist auch viel Platz für die nächsten Jahre. Der eine oder andere Baum im Wald fällt einem Sturm zum Opfer, aber die Bäume auf dieser Lichtung sind wie die Menschen um mich herum. Die meisten bleiben ein Leben lang und nur wenige knicken um. Und selbst von diesen bleibt etwas zurück. Ihr Lachen im Holzboden, ihre Stimme unter dem Dach und die schlechten Träume in den Kissen. Wenn Orion in 13.000 Jahren auf der Lichtung nicht mehr zu sehen ist, wird meine Hütte nicht mehr stehen. Das muss sie auch nicht. Falls dann noch jemand an dieser Stelle steht, ahnt er auch so, dass es ein besonderer Ort ist.

35 Gedanken zu “Ein Stück Unendlichkeit

  1. jetzt weiss ich, was mir gefehlt hat………Deine Gefühls-Miterleb-Geniess-Les-Erlebnisse. Liebe Grüße, Ann und erhol Dich schön weiter ;-).

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  2. Eine der möglichen Assoziationen zu dieser erinnernden Sternenbetrachtung, ein Satz von Immanuel Kant:
    „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

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    1. Das lag mir ebenso auf der Zunge. Gerade was dir Majestät der Sterne angeht, ist die Furcht nie weit weg, sich in der Unendlichkeit zwischen den Leuchtpunkten zu verlieren. Wie gut, dass es Holzbänke gibt, die uns festhalten.

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  3. Keine Ahnung warum, aber beim Lesen hab ich die „Heidi“-Serie meiner Kindheit vor Augen gehabt und alles, was ich mir als Kind so vorgestellt hab über das Leben in den Bergen (so als Fischkopp ist das schon ein Riesenunterschied 😉). Den Blick in die Sterne „riskier“ ich auch vom Flachland aus – macht mich auch immer total ehrfürchtig.
    Liebe Grüße und danke für Deine wundervolle Beschreibung, liebe Mitzi ❤️

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    1. Nicht ganz so hoch, aber das Heidi Bild passt. Der Hund fehlt. 😊 mir geht es so mit dem Meer. Das habe ich nicht und es ist in meiner Vorstellung auch von Filmen geprägt. Liebe Grüße. 😘

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  4. Auch ich bin eine Sternenguckerin und habe meinen Lieblingsstern. In Irland hat die Nacht auch diese Dunkelheit und Klarheit, die die Augen auf den sternenübersäten Himmel lenkt und einen zum Träumen und Nachdenken verführt. Die Ehrfurcht vor dieser Unendlichkeit hinterlässt kindliches Staunen und den Wunsch Spuren zu hinterlassen. Das hast du wundervoll beschrieben. Nun bin ich ein wenig bei dir auf der Bank gesessen, habe deine Lichtung mit den uralten Bäumen vor mir gesehen und bin deinen Gedanken gefolgt. Dankeschön für dieses schöne Erlebnis.
    Ich wünsche dir noch viel Freude und Entspannung.

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      1. avec plaisir … und doch beschreibt es nicht im ansatz … wie ich dich wahrnehme …

        falls wir nochmal geboren werden … lass mich wissen … wo ich dich finde …

        alles liebe … für dieses und für´s nächste leben …

        André

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  5. ich mag sirius, links unterhalb vom orion, besonders gern!
    ansonsten: sehr schöne poetische geschichte von dir!
    dankeschön fürs aufschreiben und teilen!
    habs gut!

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