23 Atemzüge

Manchmal war dir die Welt zu groß. An solchen Tagen machten dich der weite Blick und die Ruhe in den Bergen nervös, während dir die Menschen in der Stadt gleichzeitig zu laut und zu nahe waren. An solchen Tagen bist du laufen gegangen, um den Kopf frei zu bekommen und an nichts mehr zu denken. Wenn du zurückkamst, warst du noch unruhiger als zuvor. Alles gut, sagtest du dann und nichts war gut. Mir ist die Welt manchmal zu klein, aber nie zu groß gewesen. Ich habe nie verstanden, warum sie dir, der du selbst innen wie außen größer als die meisten warst, zu viel Platz und zu viele Möglichkeiten bot. Wenn sie mir zu klein wurde, dann atmete ich 23 Mal ein- und wieder aus. Was dann besser sei, wolltest du wissen und ich antwortete, dass nichts besser sei, aber seit dem ersten Atemzug zwei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden vergangen waren. Danach ist nichts besser, aber es ist nicht mehr die gleiche Welt wie zweieinhalb Minuten zuvor. Das ist nicht viel, aber immerhin etwas. An Tagen, an denen dir die Welt zu groß war, musste ich sie klein machen, damit du mir nicht davon liefst. Das hättest du geschafft ohne dich zu bewegen. Dein Kopf drehte Runden, bei denen ich dich nicht mehr einholen konnte, wenn du erst einmal losgelaufen bist.

Wenn dir die Welt zu groß war, machte ich sie klein. Die Welt auf meinem Balkon ist klein und wenn man sich auf den Boden legt, dann wird sie winzig. Den wenigen Platz muss man sich mit Margeritenbüschen und einer ausladenden Buntnessel teilen. Auf dem Boden liegend sind die Blätter wie ein ganzer Wald. Eine einzige Erdbeere und eine nach Sonnencreme riechende Schulter reichen, um sich an den Sommer zu erinnern. Du hast den Himmel nicht gesehen, weil meine Haare über deinem Gesicht fielen, damit er dir nicht zu weit war. Wenn dem einem die Welt zu groß wird, dann muss sich der anderer – egal wie klein er ist – größer machen und sich ihr entgegen stemmen. Dann muss man sie dem, der sie als zu groß empfindet, in kleinen Häppchen präsentieren. Kein ganzer Sommer, lieber nur ein paar Blumen. Keinen ganzen Tag, erst einmal nur 23 Atemzüge. Schwachsinn, sagtest du und ich wusste, dass es nicht stimmte. Sonst wärst du aufgestanden, deine Finger hätten nicht mit meinen Haaren gespielten und du hättest dir kein Kissen unter den Kopf geschoben. Ich brauchte kein Kissen. Das brauchte ich nie, weil mein Kopf immer in deiner Armbeuge oder auf deinem Bauch lag. Auf deine Brust mochte ich meinen Kopf nicht legen, weil ich dein Herz nicht klopfen hören wollte. Es erinnerte mich mit seinen gleichmäßigen Schlägen daran, dass so ein Herz zu zerbrechlich ist, als das man sich darauf verlassen kann, dass es immer weiter schlägt. Ab und zu griff ich nach deinem Handgelenk um das sanfte Pochen doch zu spüren und mich zu vergewissern, dass dein Herz weiter geschlagen hat, während ich eingeschlafen war.

Eingeschlafen bin immer nur ich. Egal wann ich aufwachte, du bist wach neben mir gelegen. Ich kann mich nicht erinnern, dich auch nur einmal schlafend gesehen zu haben. Auch als ich auf dem Balkon aufwachte, warst du wach. Was bringt es 23 Mal zu atmen, wenn du schon beim achten Atemzug einschläfst hast du mich schmunzelnd gefragt und auf eine Hummel gedeutet, die fett und träge an der Kapuzinerkresse hing. Die würde dort seit 37 Atemzügen sitzen, erklärtest du mir. Und dass du kaum Luft bekommen würdest, weil ich auf dir lag und der schwere Geruch der Margeritenbüschen zu intensiv war. Du sagtest, sie würden stinken und ich verteidigte ihren Duft obwohl ich ihn selbst nicht mochte.  Ich blieb auf deinem Bauch liegen bis die Hummel verschwunden, die Sonne untergegangen und ich mir sicher war, dass dir die Welt nicht mehr zu groß erschien. Mir war sie zu klein. Wenn man die Welt für einen anderen klein macht, muss man aufpassen, dass man nicht selbst verschwindet. Wenn ich 23 Atemzüge abwartete, dann ging es wieder.

Seit diesem Sommertag habe ich 23 Millionen Mal ein- und ausgeatmet. Manchmal wundert es mich, weil ich dachte, dass es unmöglich sei zu atmen, wenn du erst einmal eingeschlafen bist. Es sollte mich nicht wundern, dass es geht. Der Welt ist es schließlich egal, ob sie uns zu groß oder zu klein ist. Ich stelle mir vor, dass du träumst und dass es schöne Träume sind. Bevor ich mit dir träume, muss ich noch 230 Millionen Mal ein- und ausatmen. Du korrigierst mich. Ich darf noch 23 Millionen Mal ein- und ausatmen. Einer muss ja die Margeriten gießen. Du würdest mitzählen und aufpassen, dass ich keinen einzigen Atemzug auslasse. Ich darf noch, stimme ich dir zu. Dann liege ich auf meinem Balkon und wundere mich, dass ich atme. Ab und zu besucht mich eine Hummel und die Luft ist schwer, weil du Recht hattest. Margeriten in zu großer Zahl stinken. Sie werden weiter stinken, weil sie mich an dich erinnern. Deine Hand in meinem Nacken ist auch noch immer noch da und spielt mit meinen Haaren. Meistens dann, wenn der Wind weht.

15 Gedanken zu “23 Atemzüge

  1. Liebe Mitzi,

    wenn man nichts mehr sagen kann, sollte man schweigen. Und das tue ich jetzt. Denn eigentlich wollte ich hier eine vollkommene Stille übers Äther senden, weiß aber nicht, wie das geht. Wie kann man sonst zeigen, dass die Welt für einen Augenblick stehen geblieben ist?

    Liebe Grüße
    Mira

    Gefällt 2 Personen

  2. Als ich unten am Ende deiner Worte ankam, habe ich kurz die Luft angehalten.
    Nur jetzt nicht stören… die Hummel, die Mitzi mit ihren wunderbaren Gedanken.

    Mit augenfeuchten Grüßen,
    Silbia

    Gefällt 1 Person

  3. Das ist eine wirklich schöne, sommerliche Impression, liebe Mitzi. Deine 23 Atemzüge erinnern mich an einen antiken Ratschlag zur Vermeidung vorschneller Entscheidungen. Man solle immer vor der Entscheidung das Alphabet still vor sich hersagen. Zwar hat unser heutiges Alphabet 26 Buchstaben, aber in der Antike waren es nur 23, weil c und k, v und u, i und j nicht unterschieden wurden. Deine Erklärung, dass die Welt nach 23 Atemzügen eine andere ist, ließe sich demnach erweitern auf den sinkenden Blutdruck durch diese Atemtechnik, deren Einkleidung die Alphabetreihe ist, wobei man ihr auch noch magische Kräfte nachsagte, die aber kaum Einfluss auf die Wirkung haben dürften.

    Gefällt 1 Person

    1. Ich bin wohl nicht die erste, die sich ein paar Atemzüge lang zur Ruhe zwingt. Magische Kräfte müssen es gar nicht sein. Eine winzige Auszeit reicht völlig. Danke für die kleine Zeitreise in die Antike und dir ein schönes Wochenende, lieber Jules. Vielleicht etwas früh, aber meines hat bereits begonnen.

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar