Herr Meier mag Schnecken

Können Sie sich noch an meinen Nachbarn,  Herrn Meier, erinnern? Herr Meier versorgt mich im Herbst und Winter immer mit Walnüssen aus dem Garten seiner Tochter. Ab Mitte März liegen keine Nüsse mehr im Briefkasten. Dann weiß ich, dass Frühling ist und die Lieferung für einige Monate eingestellt wird. Herr Meier spricht nicht viel und wenn wir uns vor dem Aufzug treffen, grüßt er nur mit einer knappen Kopfbewegung. Zwei bis drei Mal im Jahr murmelt er etwas, das man nachsichtig, als ganzen Satz gelten lassen kann. Vorgestern zum Beispiel. Da wuchtete er die Einkaufstüten mit Schwung in den Aufzug, sah mich an und raunte: „Fünf Jahre?“, „Vier“, verbesserte ich ihn und freute mich über dieses ausführliche Gespräch mit meinem Nachbarn.

Vier Jahre ist es her, dass der, der mir am meisten von allen bedeutete, nicht mehr neben mir im Aufzug steht. Überhaupt steht er nirgends mehr. Dass Herr Meier sich an ihn erinnert überraschte mich obwohl es mich eigentlich nicht überraschen sollte. Herr Meier ist über mein Leben  bestens informiert. Sein Balkon ist schräg unter meinem und in den Sommermonaten bringt er sich auf den neusten Stand. Obwohl ich beschwören kann, nichts intimes oder vertrauliches auf einem Großstadtbalkon zu besprechen, weiß Herr Meier alles. Dass er mich so gut kennt, liegt vermutlich auch an der Kneipe im Erdgeschoss. Ich war noch nie dort drin, aber ich kannte einen der ab und zu dort verkehrte und am Tresen von Meier ins Kreuzverhör genommen wurde. Ich weiß nicht, wie Herr Meier es anstellte, dass er im Laufe von einigen Glas Bier ähnlich viel über meinen Freund erfuhr wie ich, aber er hat es geschafft.

„Unten gibt´s Schnecken in Weißweinsauce“, teilte mir mein Freund mit, bevor er neben mir ins Bett fiel und binnen Sekunden einschlief. Mit „unten“ meinte er die Kneipe, die das Herzstück unseres Hauses bildete. Und unten gab es auch Bier, denn das was neben mir lag, roch stark danach. Es störte mich nicht sonderlich, dass mein Freund ein paar Bier trank. Dass er es in dieser schrägen Kneipe tat, eigentlich nur etwas aus dem Auto holen wollte und dann für vier Stunden verschwand, irritierte mich ein wenig. Am nächsten Morgen klärte er mich über den besonderen Charme einer Münchner „Boazn“ auf. Das es Kneipen waren, in die man zufällig stolperte und dort schuldlos von unsichtbaren Fäden festgehalten wurde. Wer ihn aus diesen Fäden befreit hat, erkundigte  ich mich. Johann, war die Antwort. Dass mein Nachbar Herr Meier einen Vornamen hat, hielt ich bis zu diesem Tag für ausgeschlossen. Auch, dass man sich mit Herrn Meier unterhalten konnte. Überhaupt…zwei Männer, die Jahrzehnte trennte und die ich beide als wortkarg einschätzte. Meinen Freund eigentlich nicht. Wenn es etwas zu sagen gab, dann sprach er viel. Mit mir stundenlang. Aber mit Meier? Ich unterschätzte Herrn Meier, denn an den wenigen Abenden, die er und mein Freund sich gefangen in den unsichtbaren Fäden der Kneipe befanden, schienen sie sich viel zu erzählen. Manchmal hörte ich sie, wenn ich im Sommer auf dem Balkon saß und das Stimmengewirr von den Tischen unter mir nach oben getragen wurde. Ich hörte sie auch, wenn ich in der Badewanne lag und den Kopf unter Wasser hielt. Die Rohre in unserem Haus, übertragen die Geräusche überdeutlich. Das Lachen meines Freundes hätte ich aus hunderten von Stimmen problemlos herausfiltern können. Ich kann es noch heute. Irgendwo in den Rohren hängt es und manchmal bilde ich mir ein, es noch immer zu hören.
Mit den Monaten wurde „der Meier“ zum Hans und auf dem Balkon sitzend stellte ich fest, dass auch er längst nicht so wortkarg war, wie ich ihm unterstellte. Meier redete. So leise, dass ich nicht verstehen konnte, was er sagte, aber hörte, dass er einiges zu sagen hatte. Sie mussten ein seltsames Bild abgegeben haben. Der kleine, verknautschte Meier, der auch im Hochsommer eine graue Strickjacke trägt und daneben mein Freund. Groß, gar nicht verknautscht und nie frierend. Meier mochte die Schnecken, mein Freund nicht. Er erzählte, dass er trotzdem jedes Mal eine Schüssel bestellte. Weil Meiers Rente nicht reichte, er aber keine Einladungen annahm. Er würgte zwei, drei hinunter und schob den Rest über den Tisch zu Meier. So ging es.

Herr Meier ist eine der wenigen Verbindungen zu meinem Freund die noch existieren. Vor bald vier Jahren, hat er neben seinem stummen Nicken zum Gruß ab und an schief gelächelt. Es hieß wohl „wird schon wieder“. Von Meier war das viel. Das und der Hinweis, dass ich froh sein könne, einen so schrägen Kerl, wie meinen Freund los zu sein. Meier gehört zu den Menschen, die etwas Gutes über einen Menschen sagen, indem sie es in schlechte Witze verpacken. Im Frühling wird es wieder lauter unter meinem Balkon. Meiers Stimme kann ich mittlerweile herausfiltern. Spätestens dann, wenn ich meine Blumen zu viel gieße und es nach unten auf die Bierbänke tropf. Dann plärrt er „Herrschaftszeiten, dummes Ding!“ Er mag mich. Sonst würde er mich „saudummes Stück“ schimpfen. Solange Meier schweigt, nickt und plärrt hängt eine zweite Stimme und ein zweites Lachen in der Luft und in den Rohren meines Hauses.

 

 

 

 

39 Gedanken zu “Herr Meier mag Schnecken

  1. Liebe Mitzi!
    Das haben Sie zauberhaft geschrieben.
    Solch „ausführliche Konversationen“, wie Sie sie mit Ihrem Nachbarn erlebt haben, werden sonst mir bisweilen angedichtet. Da sollte ich mich vielleicht in die Kuh Meier umtaufen lassen …Schnecken mag ich aber keine!
    Ich schreibe herzlichste Grüße durch die Rohre Ihres Hauses und hoffe, sie tropfen bei Ihnen auf den Balkon und finden einen Empfänger.
    Muh! 🙂

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    1. Danke, liebe Mallybeau.
      Lassen Sie lieber das Mäulchen von Schnecken – sie müssten sie zu oft verdauen und auch der Geruch….Ich mag sie auch lieber, wenn sie durch den Garten kriechen. Nicht auf den Salat, versteht sich.
      Die Rohre waren zuverlässig und der Empfänger hat sich sehr gefreut.

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  2. Das kommt so leicht daher, so, als würdest du ganz beiläufig erzählen – und entpuppt sich dann als… ja, wie nennt man diese Textgattung? Freundliche Melancholie? Aber gute Texte sind ja häufig beides, fröhlich und traurig.

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  3. einfach bezauberndes, wie Du schreiben kannst, eigentlich ueber nichts und man haengt trotzdem an jedem Satz und moechte mehr wissen……

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      1. Liebe Ann,
        ich habe den Satz „Überhaupt steht er nirgends mehr“ so verstanden, dass er vor 4 Jahren gestorben ist. Das wäre für mich keine „Nichtigkeit“.
        oder liebe Mitzi, habe ich Sie missverstanden?
        Gruß Heinrich

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      2. Sie haben es richtig verstanden, lieber Heinrich.
        Keine Nichtigkeit, natürlich nicht.

        Wenn ich sage es geht um nichts, dann meine ich, dass es fast immer die kleinen Dinge sind, die mich an etwas erinnern und zum Thema der Texte werden. Eine kurze Begegnung im Lift oder ein Handvoll Nüsse oder Gespräche in der U-Bahn zum Beispiel.

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      3. Ich finde, dass gerade diese Kleinigkeiten einen mit der größten Wucht treffen. Vielleicht, weil sie sich so unerwartet an einen heranschleichen und dann mit einem „Hab dich!“ hinter einem Busch hervorspringen. Mit einem Schlag verschiebt sich die Wirklichkeit und einem wird regelrecht schwindelig: Gerade war man im hier und jetzt und plötzlich ist man in einer, wie es scheint, längst vergangenen Zeit. Solche Situationen machen einen glücklich und treiben zugleich Tränen in die Augen.

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      4. Liebe Mira, schöner und treffende hätte ich das Gefühl das sich immer wieder ein- und anschleicht nicht beschreiben können. Das es sich in meinen Texten so spiegelt berührt mich und freut mich zugleich.
        Herzlichen Dank für die Zeilen.

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  4. Hallo Mitzi,

    deshalb befindet sich die Wand also immer noch genau dort, wo sie gebaut wurde. Ein schöner Artikel, der mich irgendwie sprachlos zurück lässt.

    Liebe Grüße

    Mira

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    1. Hallo Mira,
      vermutlich hätte uns der Vermieter auch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber du hast recht, sie steht noch weil Herr Meier wieder selbst Schnecken bestellen muss.
      Liebe Grüße

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  5. Dein Text erinnert mich an einen Diamanten. Warum? Ein Diamant besteht eigentlich (fast) nur aus Kohlenstoff. Aber er tut dies auf eine Art und Weise, die einen das ’nur‘ vergessen lässt. Ähnlich wie Herr Meier, der ’nur‘ wenig redet – und doch sehr viel damit meint (und sagt). Und genau so liest sich dein Text. Als würdest du nur (?!) eine ‚fröhlancholische‘ Melodie summen. Und doch schwingen die passenden Akkorde mit – subtile Harmonien. Sehr stimmig. Und sehr stimmungsvoll.
    [Das wollte ich ’nur‘ mal so gesagt haben.]

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  6. Von gestrern auf heute hatte ich Besuch, war angelenkt und beschäftigt, und jetzt schaue ich erstaunt auf das Datum. Es ist 1. Mai, und in deinem Blog lese ich eine frühlingshaft köstlich erzählte Herr-Meier-Geschichte, die gleichzeitig eine Reminiszenz an deinen verstorbenen Liebsten ist, so fein mit der Meier-Geschichte verwoben und gleichzeitig ein Textdenkmal. Einfach Klasse, liebe Mitzi!

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    1. Der Mai hat mich auch überrascht. Ein wenig beleidigt, wegen des Feiertags am Sonntag habe ich ihn erst nicht beachtet und denke mir jetzt – Mai…wo kommt der den so plötzlich her. Es muss Mai sein, der Meier saß ja gestern schon wieder unten 😉
      Vielen Dank für die feinen Worte, lieber Jules. Einen schönen Sonntagabend und liebe Grüße

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  7. Und immer wieder machte es „plumps“ und mein Herz sackte ein Stück herunter. Dann wurde es wieder fröhlich hochgehoben, weil Schmunzelworte es lupften und plumps… am Ende habe ich die Schnecke runtergeschluckt und ob feiner Erinnerungen von dir, mit dir gelächelt. 🙂

    Liebe Grüße,
    Silbia

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  8. Ein schwer-leichter, melancholisch-heiterer Text. Schön zum Lesen, Schmunzeln, Nachspüren. Der verstorbene Liebste in den Rohren und im Herz und in der Erinnerung des Herrn Meier, der – im Gegensatz zu Inspektor Columbo – doch einen Vornamen hat.

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  9. Hmmm… dann bin ich wohl ein zweiter Herr Meier oder so ähnlich. Ich schwöre ich verfolge keinen unserer Hausmitbewohner aka Nachbarn (mehr als ein HI war noch nie an der Tagesordnung!) doch mittlerweile weiß ich welcher Müll zu welcher Wohnung gehört. Das macht mir selbst Angst!

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      1. Ich übersehe Nachbarn schon lange leicht,
        keine Ahnung, woher das kommt.

        Vielleicht weil ich immer und überall in Gedanken bin…

        Liebe Maigrüße vom Lu

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