Jules ist schuld oder Kramerladengeschichten

Ich habe meinen Eltern in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr offen ins Gesicht gesagt, wie enttäuscht ich von ihnen bin. Nicht weil ich es nicht mehr bin, sondern weil ich den Grund der Enttäuschung an den meisten Tagen schlicht vergesse. Vermutlich auch, weil ich mittlerweile erwachsen bin und eigentlich doch nicht mehr enttäuscht bin. Es fällt mir aber sehr leicht, mich wieder daran zu erinnern. Dann schiebe ich die Unterlippe nach vorne, ziehe die Nase kraus und kaue zutiefst beleidigt auf meiner Oberlippe herum. Das sieht übrigens nicht so bescheuert aus, wie es klingt. Männer die mich liebten und unabsichtlich enttäuschten oder beleidigten, attestierten mir, dass ich dann süß aussehe. Wie eine beleidigte Dreijährige. Das ich jetzt in diesem Moment so aussehe ist die Schuld von Jules. Er erinnerte mich daran, dass ich schon wieder ganze sieben oder acht Jahre vergessen habe, enttäuscht zu sein.

Neben Jules, haben es meine Eltern zu verantworten, dass ich auf meiner Lippe knabbere und die Nase kraus ziehe. Die entschieden sich nämlich vor etwa 23 Jahren umziehen. Angeblich störte sie das dunkele Wohnzimmer und das fensterlose Bad. Auch, dass jeder der sein Fahrrad abstellt einen guten Blick auf ihre Sofaecke hatte, missfiel ihnen. Ebenso wie der Ausblick auf einen betonierten Hinterhof, eine Tiefgarageneinfahrt und etwa 568 Fenster anderer Wohnungen. Unwichtige Kleinigkeiten. Meine Eltern hatten überhaupt keine Ahnung in welchem Kleinod sie wohnten. Man konnte – wenn man den Schlüssel vergessen hat – mit Hilfe eines Fahrrades, auf das man kletterte, leicht durch das Kinderzimmer in die Wohnung gelangen. Ist das nicht überaus praktisch? Schlüsseldienste sind doch so teuer. Man musste nur das Fenster angelehnt lassen, was ich tagsüber grundsätzlich tat und mich ärgerte, wenn mein Vater es schloss. Vor dem Schlafzimmerfenster nistete jedes Frühjahr ein Vogel und in der Kneipe gegenüber bekam ich als Kind immer ein Eis geschenkt. Wenn das an Vorteilen noch nicht reicht, dann kann ich nur empfehlen über den Hof auf die Dächer der angrenzenden Garagen zu klettern und sich wie der König des Innenhofes fühlen. Ich bin sicher, wenn meine Eltern das einmal in den Abendstunden getan hätten, wären sie nie auf eine so blöde Idee gekommen, aus Giesing wegzuziehen. Die Nähe zur Isar tauschten sie gegen den Blick auf ein Naturschutzgebiet. Also bitte. Versuchen Sie mal im Naturschutzgebiet zu grillen. Einen Balkon wollten sie haben. Wer braucht denn einen Balkon, wenn er sich auf die warme Dachpappe von Garagendächer legen kann? Mein Eltern zogen um und ich wurde nicht gefragt. Man erinnerte mich vorsichtig daran, dass ich doch eh bald ausziehen würde. War ich über die Umzugspläne schon wenig erfreut, war ich nach dieser Aussage so beleidigt, dass ich in Erwägung zog, zur Strafe erst mit Mitte dreißig auszuziehen.

Es gibt unzählige Gründe, warum ich es meinen Eltern noch heute übel nehme, dass sie die Wohnung meiner Kindheit fremden Menschen überlassen haben. Die oben aufgeführten gehören nicht dazu. Was mich noch heute traurig macht hat einen anderen Grund. In der neuen Wohnung bin ich nur Besuch. Nur eine winzige Zeitspanne wohnte ich dort. Zu kurz, um je heimisch zu werden. In der Küche, zum Beispiel, kenne ich mich nicht aus und suche Töpfe, Pfannen und Untersetzer wie eine Fremde. Und am schlimmsten – die Krimskrams-Schublade fehlt. Die ist jetzt im Flur. IM FLUR!! Sie war immer in der Küche und glauben Sie mir, obwohl es nur eine kleine Schublade war, enthielt sie immer genau das, was man gerade suchte. Gummi, Tesafilm, Stift oder Streifenkarte für den Bus. Wenn man etwas suchte, dann war es in genau dieser Schublade. Legostein, Briefmarken, Schere – alles war dort. All die Dinge können unmöglich ständig dort aufbewahrt worden sein. Ich bin überzeugt davon, dass all der Kram sich immer erst dann dort manifestierte, wenn man die Schublade öffnete. Ich liebte diese Schublade. Die neue – im Flur – ist mir fremd. Da habe ich nichts zu suchen. Ich habe jetzt eine eigene, die übrigens schon immer, egal wo ich wohnte, im Flur ist. Meine darf das. Die meiner Eltern, hat gefälligst in der Küche zu sein. Auf Kinderaugen-Höhe.

Für das hübsche Mitmachprojekt #Kramladengeschichten von Jules habe ich meine eigene Schublade geöffnet und festgestellt, dass ich meinen Eltern verzeihen kann – ich habe längst mein eigenes liebgewonnenes Sammelsurium. IMG_0810Unverzichtbar in meiner Kramschublade sind Zweitschlüssel für Wochenendbesucher und Wunderkerzen. Die brauche ich…..ich weiß nicht wann ich sie brauchen werde, aber wenn, dann habe ich sie griffbereit. Ebenso wichtig ist das Feuerzeug mit dem Text „Ich weiß das du mich liebst“. Das schenkte mir einer, bei dem es unendlich wichtig war, dass er es wusste. Mein Adressbuch, dass ich zum 13 Geburtstag geschenkt bekam, wird noch immer benutzt und enthält alle Menschen und Telefonnummern, die ich je kannte. Auch wichtig, der Aufkleben „BÄÄM!“. Ich weiß noch nicht wann ich ihn brauchen werde, aber der Moment kommt bestimmt. Der Rest ist unspektakulär, in erster Linie nützlich und lag für das Foto neben der Schublade auf dem Boden. Außer von mir, wird diese Schublade nur von zwei Menschen regelmäßig geöffnet. Ich weiß nicht, was sie darin suchen, aber meistens werden sie fündig. Umziehen werde ich übrigens nicht – ich habe Angst im nächsten Flur keinen Platz für die Schublade zu haben. Und in die Küche kommt die mir nicht!

34 Gedanken zu “Jules ist schuld oder Kramerladengeschichten

  1. Jules ist sogar Schuld, dass ich nach einer solchen Schublade hier geschaut habe und keine gefunden habe. Meine Hosen/Jackentaschen sind noch langweiliger, weil ich sie durch die Fliegerei immer ordentlich halte 😉

    Den Aufkleber BÄÄM hätte ich auch gern ! 😉 Und Dein Gesicht hätte ich gern einmal live gesehen !

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      1. Nein, danke, liebe Mitzi, bei Dir wird er eine Geschichte erleben und auf die freue ich mich….aber sollte ich tatsächlich BÄÄM einmal benötigen (wer weiss), werde ich mit Sicherheit auf Dein grosszügiges Angebot zurückkommen…..;-)

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  2. Also, ich persönlich finde am besten den Zettel mit „Anna, geh ins Bett!“ und diese undefinierbare Sache, auf der „Du bist Giesing“ steht. Ein USB-Kabel sollte übrigens jede(r) in seiner Krimskrams-Schublade haben. Ist heutzutage unabdingbar.

    Du bist Giesing. Ich bin Laim ;-}

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    1. Anna….das war ein Text letztes Jahr. Die Schnipsel liegen mittlerweile überall in der Wohnung rum, obwohl ich schwören könnte, dass ich sie nach dem fotografieren wegwerfe….

      Giesing ist ein Foto. Vor einiger Zeit war das überall auf die Gehwege gesprüht.

      Schönen Abend, Herr Nachbar (also fast…..bei all den anderen Städten hier, ist das ja schon recht nah):

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  3. Legosteine, Briefmarken, Schere….. In so einer Kramschublade hatte mein Vater seine „guten“ Zähne aufbewahrt, die er nur zu besonderen Anlässsen benutzt hat.
    So haben wir die nach seinem letzten Umzug verzweifelt gesucht.
    Irgendwann bemerkte er unsere Unruhe und Emsigkeit und fragte, was wir suchen.
    „Meine Zähne? Na! Die sind da, wo sie hingehören – in der Schublade! tss tsss“

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  4. … letztes Jahr habe ich die Wohnung meiner Mutter aufgelöst und noch eine Nacht in der leeren Wohnung im Schlafsack verbracht… alle Erinnerungen die fort wollten durften Fliegen… unsere Kramschublade stand im Flur ;-D

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    1. So traurig die Vorstellung ist – ich könnte mir vorstellen das auch zu machen. Noch einmal dort schlafen, sich die Augen ausweinen und vermissen….auf gesunde und gute Weise trauern und loslassen.
      Traurig, aber auch schön.

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  5. Libe Mitzi,
    du hast woanders schon darauf hingewwiesen, wie „leicht und leidenschaftlich man als Kind sein Herz an“ kleine Dinge verlieren kann. Die Tragweite begreife ich, nachdem ich gelesen habe, welche Bedeutung die Krimskrams-Schublade in der elterlichen Wohnung für dich hat. Dabei beeindruckt mich, wie präsent dir das noch alles ist, und da es überwiegend um schöne Erinnerungen geht, bin ich froh, sie angestoßen zu haben. Schön, dass du mitgemacht hast.
    Die traurig-trotzige Mimik, die du eingangs beschreibst, heißt im Rheinland übrigens „e Pännche trecke“ (ein Pfännchen ziehen).
    Ich hoffe, du ziehst kein Pännchen mehr und wünsche dir ein schönes Wochenende,
    Julkes

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    1. E Pännche trecke – das gefällt mir!
      Das meine ist längst gewichen und ich freue mich, dass du mir Gelegenheit gegeben hast, mich an die Schublade und die geliebte Wohnung zu erinnern.
      Liebe Grüße aus dem Regen, der Gelegenheit bietet einfach auf dem Sofa zu liegen und berechtigt faul zu sein 😉

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  6. Liebe Mitzi,
    Dies ist der erste Text von dir bei dem ich tatsächlich ein Tränchen verdrückt habe. 🙂
    Nicht wegen deiner zauberhaften Worte sondern wegen der Kramschublade, die ich nun zum ersten mal seit langem mal wieder geöffnet habe.
    Die Kramschublade gab es nie.
    Doch diese eine Wohnung, die gab es. In Wattenscheid, im Preins Feld 1. Dort thronte im Wohnzimmer ein großer, rustikaler Schrank, der voller Süßigkeiten war. Der quietschte ganz gemein, sobald man ihn öffnete. Da musste man manchmal vorsichtig sein. Den Schrank gab es bereits bei der Oma in Wanne, doch der quietschte nicht und selbst wenn, bei der Oma war es egal. Da musste man nicht aufpassen. Da durfte man Süßigkeiten essen soviel man wollte…
    Im Preins Feld stecken viele Erinnerungen. Eigentlich die ganze Kindheit. Auch ich habe mich danach nie wieder irgendwo so heimisch gefühlt. Ich halte es für ein großes Geschenk, solch einen inneren Heimat Raum zu besitzen. Die Eiskonfekt und Storck Riesen Erinnerungen möchte ich nicht missen. 😉
    Deine Kramschublade ist wirklich ganz zauberhaft.
    Bitte fühl dich herzlich gedrückt.
    Jenny

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    1. Jetzt hast du mich mitgenommen…in die Wohnung einer Oma und ich habe den Geschmack von Storck Riesen auf der Zunge 🙂
      Die innere Heimat bleibt uns hoffentlich erhalten. Sie ist beständiger als Wohnungen, Häuser und Schränke.
      Herzlich zurück gedrückt ❤

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  7. Ich verstehe das mit dem Verlust des Zuhause-Gefühls so so so gut. Meine Eltern haben das ja auch gemacht, wie konnten sie nur? 😄 und weißt du, was verrückt ist: ich habe in meiner Krimskrams-Schublade AUCH Wunderkerzen! Allein das Gefühl, dass ich mir jederzeit dieses besinnliche Licht herbeizaubern kann, erfüllt mich mit Glück ❤️ BÄMM!

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    1. Schön, dass nicht nur bei mir auch nach Sylvester Wunderkerzen in der Schublade liegen.
      Irgendeine Gelegenheit wird sich schon ergeben und wenn nicht, dann wissen wir…wenn wir wollten, dann könnten wir den Sternenregen jederzeit haben 🙂

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