10.000 + 1 Dinge

Ab und zu stellen meine Freunde bei einem Besuch  ihre eigenen Bücher in meine Regale und erhöhen meinen Besitz von etwa 10.000 Dingen um einen weiteren Gegenstand. Meistens sind es alte Bände von jenen Autoren die als Klassiker gelten. Die würde ich doch mögen, sagen sie und zwängen eine weitere Effi Briest an Fontanes Seite. Oft leuchtet mir grell gelb eine Reclam Ausgabe des Schimmelreiters oder Goethes Faust dort entgegen, wo sie nun wirklich nichts zu suchen hat. Sie wurden schnell und heimlich Tolstoi an die Seite gestellt, weil bei den Deutschen längst kein Platz mehr ist. Man schenkt sie mir, weil man glaubt, sie würden zu den vielen anderen Büchern passen die dort bereits stehen. Die schöne neue Welt, könnte ich drei mal in Folge in der Badewanne versenken und hätte dank freigiebiger Spender noch immer eines ohne gewellte Seiten. Selten sind es schöne oder neue Ausgaben. Es sind die alten, vergilbten Pflichtlektüren aus der Schulzeit, die aus meinem Kämmerchen einen Friedhof für besonders ungeliebten Lesestoff machen. Ich bin mir nicht sicher woran es liegt, dass diese Bücher nicht im Altpapier landen. Vielleicht, weil ich zu oft erwähnt habe dass man geschriebene Seiten nicht einfach wegwirft, solange sie noch irgend jemand mit Freude lesen kann. Ich habe es so oft gesagt und ertappte mich nun selbst dabei, das eine oder andere zerfledderte Ding in den Müll zu werfen. Meistens reicht mir ein kurzer Blick im vorbeigehen um eines dieser Bücher zu entdecken. Kenne und besitze ich es bereits, sortiere ich es aus. Ist es mir unbekannt, bleibt es stehen, bis ich in der Stimmung bin, Zeit mit ihm zu verbringen.

Es kommt vor, dass ich manche dieser Bücher übersehe. Die Deutschstunde von Siegfried Lenz zum Beispiel habe ich am Dienstagabend entdeckt und bin mir sicher, dass ich dieses Buch noch nie in der Hand hatte. Obwohl mir der Titel und der grobe Inhalt bekannt waren, hatte ich es noch nicht gelesen. Wer es mir ins Regal gestellt hatte, war nicht zu erkennen. Auf der ersten Seite stand nicht wie so oft „Lena Maier Klasse 9c“ oder „zur Konfirmation von Tante und Onkel“. Das Buch war ohne Widmung, aber man sah ihm an, dass es mehr als einmal gelesen wurde. Ich begann am Dienstag Nachmittag, es zu lesen und habe bis spät in die Nacht nicht aufgehört. Auch die folgenden Nächte nicht. Jetzt liegt es auf meinem Kopfkissen und ich weiß von wem ich es habe. Es ist das eine Ding, nach dem ich suchte, als er aus meinem und seinem Leben verschwand. Ich stellte meine Wohnung auf den Kopf, weil ich nicht glauben konnte, dass er mir nichts als einen Haufen Erinnerungen hinterlassen hatte. Dabei war es immer da. Es war genau an der Stelle, an die ich es selbst gestellt hätte. Links und rechts neben ihm, standen Bücher, die mir so vertraut waren, dass ich sie nicht mehr lesen muss, um mich an den Inhalt zu erinnern. Jahrelang habe nach irgendetwas von ihm gesucht und es dabei übersehen.

Es braucht keinen besonderen Anlass um dieses Buch zu lesen und großartig zu finden. Es spricht für sich selbst. Und doch ist es ein glücklicher Zufall dass ich es gerade jetzt lese, wo es für mich persönlich eine besondere Wirkung entfaltet. Für Buchbesprechungen bin ich ungeeignet. Die meisten werden es kennen, wer es nicht kennt, dem sei es ans Herz gelegt. Für mich ist diese eine Ausgabe der Deutschstunde mehr als nur der Inhalt dieses Buches. Als ich vor einigen Tagen von den unsichtbaren Bilder von Max Ludwig Nansen las, katapultierte es mich zurück in ein Café. Dort saß ich mit dem, dem das Buch einmal gehörte . Er kritzelte etwas auf die Rechnung die wir eben erhalten hatten und ich bat ihn damit aufzuhören und sich auf mich zu konzentrieren. Lachend, weil ich wusste, dass er meinen Erzählung gerade dann besonders aufmerksam folgte, wenn sich der Stift in seiner Hand  verselbständigte. Ich nahm ihm den Bleistift weg und er sah grinsend auf. Er murmelte etwas davon, dass es auch ohne Stifte ginge und als ich nachfragte ergänzte er, dass er es notfalls eben wie der Maler Nasen machen würde. Ich verstand ihn nicht fragte nach. Er wollte es nicht erklären, meinte er hätte es aus dem Zusammenhang gerissen und wenn ich wirklich nicht wüsste von wem er gesprochen habe, dann würde mir ein wichtiges Buch in meiner Sammlung fehlen. Der Kellner kam und ich vergaß ihn nach dem Titel des Buches zu fragen.

Jetzt habe ich es. Das Buch und etwas von ihm. Als ich aufgehört habe, danach zu suchen, habe ich es gefunden. Der Inhalt hat nichts mit ihm zu tun, er steht für sich alleine. Aber diese eine Ausgabe von 1984 für 9,80 DM, die gehörte ihm und die hat er mir dagelassen. Im Oktober suchte ich noch hier danach. Es ist das eine Ding von 10.000. Das schönste und wichtigste von allen.

43 Gedanken zu “10.000 + 1 Dinge

  1. Seufz!
    Es war schon immer so, dass wir fündig werden, wenn wir aufhören zu suchen. In diesem Fall ist es besonders anrührend, weil es so nah war, noch näher geht ja wohl nicht. 😉

    Liebe Grüße,
    Silbia

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  2. ich habe eben über Deinen Beitrag nachgedacht….ich habe das Buch auch gelesen, aber kann mich kein bisschen erinnern wie bei sehr vielen Büchern, jedoch andere wie die von Max Fisch oder Stefan Zweig problemlos……ich frage mich manchmal, woran das liegen mag……das ist wohl dann eine andere Form der Suche! Ich mag es, wenn mich Deine wunderbaren Texte zum Nachdenken bringen…..auch wenn das jetzt nix direkt damit zu tun hat!!

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    1. „Die meisten werden es kennen…“
      Da ist es mir ganz ähnlich ergangen wie dir. Ja, ich kenne es. Und, nein, ich kenne es eigentlich nicht.
      Warum verschwinden manche Bücher aus unserer Erinnerung? Hat es mit der Qualität des Lesens zu tun – weil man manchmal aufmerksamer und manchmal ’schlampiger‘ liest? Hat es mit dem Inhalt zu tun? Ist die Erinnerung überhaupt weg oder ließe sie sich reanimieren, wenn man nur in den richtigen Winkeln des Gehirns (oder Herzens?) stöberte?
      Akut habe ich keine schlaue Antwort auf diese Fragen. Aber ich finde sie denkenswert…

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      1. ich weiss es auch nicht, vielleicht gibt es auch Lebensphasen, in denen man für gewisse Bücher mehr empfänglich ist….vielleicht ist es auch Konzentration, weil das Leben mehr abverlangt…..ich denke schon die ganze Zeit darüber nach….oder fehlendes Interesse……ich denke dann mal lieber weiter 😉

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      2. Ähnliches hat Random Randomsen gerade geschrieben. Ich denke es ist eine Kombination aus vielen Komponenten. Allerdings empfinde ich es auch nicht als schlimm, wenn manche Bücher aus dem Gedächtnis verschwinden. Warum auch immer…vielleicht machen sie einfach nur Platz für andere, die als wichtiger empfunden werden. 🙂

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      3. Das mit den Lebensphasen ist bestimmt ein wichtiger Punkt. Ich habe auch schon Bücher nach 2-3 Kapiteln ‚vertagt‘, weil es einfach irgendwie nicht gepasst hat. Manchmal hat nur wenige Monate später alles gestimmt für ein eindrückliches Leseerlebnis. Wenn man sich zur Unzeit durch ein Buch ackert, kommt auf jeden Fall nix Gutes heraus.

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      4. Auf jeden Fall denkenswert und du hast die Antworten (einige davon) bereits geliefert. Was hängen bleibt, hängt von vielen Faktoren ab. Persönlichem Gefallen, der Situation in der man etwas liest und was welche subjektiven Querverbindungen mit dem Text hat.
        Viele Bücher kann ich nach einigen Jahren ein zweites Mal lesen und mich darüber wundern, wie wenig beim ersten Mal hängen geblieben ist.

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      5. Manche Bücher wollen vielleicht gar nicht ‚hängen bleiben‘, weil sie damit eine bessere Chance haben, wieder gelesen zu werden. 🙂
        Ich habe mir schon sehr oft vorgenommen, dieses oder jenes Buch wieder zu lesen und es dann bleiben lassen, weil ich zumindest geglaubt habe, mich noch gut genug zu erinnern.

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    2. Es geht mir ähnlich, Ann.
      Viele Bücher, die ich gelesen habe und die mir sogar gefallen haben, sind mir nicht mehr präsent. Vielleicht bleibt nur das hängen, dass uns unbewusst angesprochen hat und sich dadurch tiefer ins Gedächtnis gebrannt hat.

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  3. Seltsam. Wie breit ein Text ist, sieht man auf einen Blick. Auch wie lang er ist, lässt sich leicht feststellen. Aber seine TIEFE lässt sich nur empathisch annähernd ausloten…
    Ich will jetzt hier nicht klugscheißern oder dich irgendwie korrigieren. Aber ich möchte dir einfach einen Gedanken zur freien Anfreundung überlassen. Es geht um den Satz: „Das Buch war ohne Widmung, aber man sah ihm an, dass es mehr als einmal gelesen wurde.“ Mehr als einmal gelesen bedeutet ja – es ist dem früheren Besitzer wichtig gewesen. Und es ist auch nicht in einem Akt gedankenlosen Entsorgenwollens in eine zufällige Lücke gezwängt worden. Alles in allem also eigentlich die schönste Widmung überhaupt. 🙂

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    1. Mit diesem Gedanken kann ich mich sehr gut anfreunden. Wie du schreibst, gerade weil es schon ein bisschen zerlesen war, ist es nicht zufällig, sondern ganz bewusst bei mir gelandet. Eine wortlose Widmung :).
      Übrigens, kannst du mich gerne korrigieren oder auch kritisieren. Das Kommentarfeld unterliegt keinen Einschränkungen. Gedankenanstöße sind selbstverständlich mehr als willkommen.

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      1. 🙂

        [Ich würde mich wahrscheinlich eh nicht gescheut haben, ’notfalls‘ etwas zu korrigieren. Die Betonung des ’nicht Korrigierens‘ war mir deshalb wichtig, weil ich den zitierten Satz ja nicht irgendwie in Frage stellen, sondern einfach eine ‚Zusatzperspektive‘ ins Spiel bringen wollte. (wie kompliziert das manchmal ist, etwas einfach Gedachtes in Worten auszudrücken…)]

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  4. Ich habe das Buch nie gelesen. Irgendwann hatte ich es mal in der Hand und dachte: „Ach, so ein alter Stoff“. Nun hast du mich ein bisschen neugierig gemacht, doch es würde mir wahrscheinlich sehr viel weniger bedeuten als dir.
    Das hat so was schön Abgerundetes … dein Erleben … dein Finden.
    Das kann man in das eigene Erinnerungsschatzkästchen legen und ist ein bisschen froher als vorher.

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  5. Das ist eine wundervolle Geschichte, liebe Mitzi, bei der es dir gelungen ist, etwas über deine Büchersammmlung zu sagen und gleichzeitg zu erzählen, warum dieses eine Buch für dich wichtig ist. Die Szene im Café mit deinem Liebsten, ist gewiss meisterhaft, weil dort einerseits die Besonderheit eurer Beziehung klar wird und er dir kritzelnd ein literarisches Rätsel stellt, das du für dich erst in den letzten Tagen aufgelöst hast. Längst müsste ich es besser wissen, aber mich überraschen immer wieder der geschickte Aufbau und geläufige Stil deiner Texte, und wie es dir gelingt, das leise Bedauern über den Verlust eines dich prägenden Mannes einzuflechten, so dass man sich als Leser für dich wünscht, es wäre anders gekommen.

    Fühl dich gedrückt,
    Jules

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    1. „… so dass man sich als Leser für Mitzi wünscht, es wäre anders gekommen.“

      Ja, sehr treffend. Genau das ist es, was ich immer spüre, aber nicht in Worte zu fassen wusste. (Und Die Deutschstunde muss ich mir unbedingt mal besorgen. Derzeit bin ich gerade dabei, mich durch meine Regalzentimeter Max Frisch zu lesen, nach einer Pause von dreißig Jahren.)

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  6. Schön! Vor allem in Kombination mit dem Text vom Oktober. Du kannst mit Worten Bilder zeichnen. Würdest du Bücher schreiben, wäre ich ein begeisterter Leser 🙂 So freue ich mich jedesmal aufs Neue wenn ein neuer Artikel von dir erscheint!! Liebe Grüße!

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    1. Es ist schön, dich hier als Leser zu haben. Hier bekomme ich so viele Reaktionen, die ich immer genieße. Ein Kommentar oder ein Sternchen – es freut mich jeden Tage aufs Neue.

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  7. Diese Geschichte erlaubt auf so vielen Ebenen eine Würdigung oder eine Kommentierung, dass es zumindest einer Lenzschen Novelle bedürfte, um alle Gedanken hineinzupacken. Vielleicht als Ausgleich zu diesem sperrigsten und bittersten seiner Werke – im Ton wie im Inhalt. Andererseits hast du genau das schon geleistet, den Ton zu temperieren. Besser für sich stehen lassen.

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    1. Es ist auch immer ein Stück Feigheit, wenn ich zu den Büchern, die mich wirklich berühren so gut wie nichts schreibe. Ich würde ihnen nicht im Ansatz gerecht werden. Da lasse ich es lieber und erzähle vom drum herum.

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  8. Liebe Mitzi,
    ich komme hier immer etwas „zu spät“, dann haben die liebenswerten Besucher Ihres Blogs schon alles zu Ihren wundervollen Geschichten gesagt und ich kann nur noch eine „Gefälltmirdauerflatrate“ auslösen.
    Gruß Heinrich
    P.S. aber wenn mir jemand einen Reclam-Schimmelreiter ins Regal stellt, den würde ich schon zur Rede stellen! 😉

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    1. Ein herzliches Dankeschön, lieber Heinrich. Ich freue mich sehr über ihren Besuch. Ganz egal, wann Sie hier vorbei schauen.
      Verraten Sie mich nicht, aber außer meiner eigenen Schimmelreiter-Pflichtlektüre, habe ich alle anderen weggeworfen.

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  9. Ich las kürzlich noch einmal Hesses Steppenwolf und war überrascht, dass ich es ganz anders aufnahm und empfand als damals als junger Mensch. Ja, es gibt für jede Zeit eine Sichtweise und manchmal bekommt man überraschend ein Buch, dass man erst dann schätzen kann, wenn die richtige Zeit dafür gekommen ist. Von Lenz ist mir eher „das Vorbild“ in Erinnerung.

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    1. Ich empfinde das bei vielen Büchern so, die man etwa in der zehnten Klasse liest. Effie Brist zum Beispiel – das ist doch etwas für erwachsene Frauen und nicht für Teenager. Heute mag ich das Buch. In der Schule konnte ich nichts damit anfangen.

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      1. Genauso empfand ich dass bei den Kafka Interpretationen, wir konnten damit nicht viel anfangen. Eigene Ideen waren verpönt, es mußte diese eine Interpretaion sein, die die Lehrer im Kopf hatten. Ich fand dass ungerecht. Wir haben einmal einen Aufstand gegen unsere Deutschlehrerin probiert und wurden natürlich diszipliniert. Würde gerne wissen ob sich da später etwas im Gymnasium geändert hat.

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      2. Soweit ich mich erinnern konnte, durften wir schon recht frei interpretieren – solange es schlüssig war.
        Ich kenne das von dir beschriebene von der Uni. Da gab es Vorlesungen wo es reichte oder sogar besser war, das Skrip des Profs auswendig zu lernen.

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  10. Anfang der 70er lief mal eine mehteilige Verfilmung im Fernsehen, ich war noch ein Kind und durfte es nicht sehen, aber den Aufhänger bekam ich mit: Ein Schüler gab ein leeres Aufsatzheft mit der Begründung ab, es sei zuviel, was er hätte schreiben müssen, deshalb habe er gar nichts geschrieben. Das fand ich ungeheuerlich und gleichzeitig absolut nachvollziehbar, ich habe es seitdem nie vergessen und muß immer mal wieder daran denken, wenn ich vor einem Blogeintrag sitze und ihn deswegen nicht kommentiere, weil ich für die Länge, die ich bräuchte, einfach keine Zeit habe oder es den Blogger vielleicht in der Ausführlichkeit auch gar nicht interessiert.
    Nun bin ich neulich erst, vor ein paar Monaten, dazu gekommen, den Roman zu lesen, und finde ihn grandios. Mich beschleicht die Ahnung oder der Verdacht, daß es ganz gut war, daß ich ihn erst jetzt gelesen haben, denn ich weiß nicht, ob ich ihn früher in seiner ganzen Qualität erfaßt hätte.

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    1. Schön, dass einem etwas über Jahre begleitet und man sehr viel später das große Ganze aus dem es stammt als grandios empfindet.
      Welcher Roman ist es denn?

      Das Gefühl lieber nichts, als nur einen Teil oder etwas halbes in einem Kommentar zu schreiben, kenne ich auch. Bei mir kommt dazu, dass mir oft einfach auch die passenden Worte fehlen.

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