015 irgendwas 23

1412355 war die Telefonnummer meiner Großeltern. Seit 26 Jahren gehört der Anschluss jemand anderem und doch erinnere ich mich noch gut an die Tastenkombination aus meiner Kindheit. Die 661341 war die Nummer der Wohnung in der ich aufgewachsen bin und 66xxxx gehört den Eltern meiner ältesten Freundin. Während ich die ihre nicht auswendig kann,  ist die der Eltern für immer in meinem Kopf gespeichert. Ich kann mich nur an jene erinnern, die ich nie irgendwo gespeichert habe, weil man sie früher am besten im Kopf behielt. In meinem Kopf war auch die, die mit 23 endete. Die Zahlen dazwischen sind verblasst, nur das Ende blieb mir im Gedächtnis. Wenn ich das Telefon in die Hand nehme und meine Finger  bitte, sich an die Zahlenkombination zu erinnern, verweigern sie sich. Lass es, flüsterst du mir leise zu und deine Stimme kling nachsichtig, weil du weißt, dass mich das Vergessen mehr ängstigt als das Erinnern schmerzt. Vergiss das Ende, bittest du mich und erinnerst mich daran, dass es nicht schön war. Welches Ende du meinst, traue ich mich nicht zu fragen. Das Ende, als deine Mailbox nicht mehr funktionierte und mir als letztes auch deine Stimme weggenommen wurde? In den Monaten davor schlief ich mit ihr ein und wachte mit ihr auf. Lass es, flüsterte deine Stimme schon damals und klang traurig, weil ich es nicht konnte und immer wieder die gleichen Zahlen wählte, bis kurz nach der 23 die Aufzeichnung deiner Stimme ertönte. 18 Worte waren es. Zwei davon dein Name. Neutrale Worte, die mich aufforderten eine Nachricht zu hinterlassen und versprachen zurück zu rufen. Du konntest nicht mehr zurück rufen. Ich wusste es und habe es doch versucht. Nicht 23 Mal. Vielleicht 2300 Mal. Vielleicht auch nur 230 Mal. Bestimmt 23 Wochen lang. Ich hätte es auch 23 Monate getan, wenn mir nicht irgendwann ein Tonband gesagt hätte, dass der Anschluss nicht mehr existiert. Die Nummer meiner Großeltern gibt es noch. Sie gehört jetzt jemand anderem. Deine gibt es nicht mehr und ein Teil von mir ist darüber erleichtert. Täglich ein Versprechen zu hören, und zu wissen, dass es wieder und wieder gebrochen wird, ist ungesund. Der Kopf versteht es, das Herz will es nicht glauben. Lass es, bat deine Stimme als ich mit 18 Worten von dir einzuschlafen versuchte und nachts aufstand um sie noch einmal zu hören. Es war so leicht. Denn obwohl ich sie auswendig konnte, war sie gespeichert. Nur ein Tastendruck und ich hörte dich. Ein fader Abklatsch deiner  Stimme, aber doch ein Teil von dir.

Seit gestern habe ich ein neues Telefon. Der Speicher ist bis auf einen Eintrag leer. Vorhin habe ich die 23 und deinen Namen in das Adressbuch eingetragen. Ich habe Angst auch die letzten beiden Ziffern zu vergessen und höre dich lachen. Du lachst, weil du weißt, dass ich diese beiden Zahlen nie vergessen werde. Es ist mein Geburtstag und ich mochte die Zahl schon lange bevor es dich gab. Wenn ich im Juni ein Jahr älter werde, habe ich dich eingeholt. Überrundet, höre ich dich sagen und lege das Telefon weg. Obwohl du zwei Jahre vor mir geboren bis, bin ich seit letztem Jahr älter als du. Irgendwann werde ich 23 Jahre älter sein, vielleicht auch deutlich mehr. Die Vorstellung gefällt mir nicht. Ich habe nichts dagegen älter zu werden. Es ohne dich zu tun, fällt mir noch immer schwer.

Ich kann mich nicht mehr an deine Telefonnummer erinnern. Meine Finger finden die richtigen Tasten nicht mehr. Sie greifen ins Leere. So wie damals meine Hände als ich dich festhalten wollte. Du warst 38, das bin ich schon seit einem Jahr nicht mehr. Als wir das letzte Mal telefonierten, hattest du alle Nummer außer der meinen bereits gelöscht. Als ich dich nach dem Warum fragte, meintest du der Versuch wäre sinnlos. Es wäre unmöglich mich vor dem Ende zu löschen. Es macht mich noch genauso wütend wie damals, wenn ich dich von einem Ende sprechen höre. Dein Ende war nicht meines. Für mich wird es kein Ende geben. Nicht solange ich mich an zwei Zahlen erinnere. Ich werde sie genauso wenig vergessen wie meinen Geburtstag. Ich konnte dich nicht festhalten, aber loslassen kann ich dich auch nicht. Dann lass es, sagst du und zuckst mit den Schultern. Wir wissen beide, dass wir es nicht schaffen. Du, weil du noch immer auf meiner Bettkante sitzt und ich, weil ich dich nicht runter schupse. Wir werden noch eine lange Weile im Dunklen meines Schlafzimmers sitzen und wissen, dass es kein Ende geben wird.

Wenn einer von der Brücke springt ist es kein Ende. Nicht, wenn er beim springen die Hand des Anderen nicht losgelassen hat. Dann hängt er auf ewig fest und hat es nicht anders verdient. Genauso wenig wie der Idiot, der  die letzten Meter mit ihm gegangen ist.

 

 

 

 

 

12 Gedanken zu “015 irgendwas 23

  1. Ich glaube, selbst wenn man die Nummer noch auswendig kennt, verlernt man das motorische Muster, weil man es nicht mehr regelmäßig tippt. Es käme aber schnell wieder, wenn es mehrmals aktiviert würde. Die Stimme bleibt noch lange im Kopf. Wenn man sie durch eine Ansage immer wieder anhört, entdeckt man, dennoch immer wieder Neues darin. Selbst wenn man die paar Worte auswendig kann. Der Tonfall die Pausen, die Lückenfüller, die Stimmeinsätze… ich habe Gedichte darüber geschrieben…

    Wieder sehr berührend und so gut nachvollziehbar, liebe Mitzi. Die letzten Worte tönen hart, aber ich denke, in der Liebe geht es nicht darum was für denjenigen auf lange Sicht gut oder schlecht wäre. Dafür ist im Nachhinein noch genügend Zeit. 23 Wochen, 23 Monate oder so…

    Liebe Grüße aus der Silbenkemenate,
    Silbia

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    1. Liebe Silbia, danke für die schönen Worte.
      Das motorische Muster, musste ich bemühen, als ich die Nummer meiner Großeltern geschrieben habe. Auf dem Ziffernblock fiel es mir leicht sie zu tippen – die Tasten gab es damals noch gar nicht so lange, aber das runter, hoch, nach rechts und zwei Mal in die Mitte ist doch in Erinnerung geblieben.
      Die Liebe fragt nicht….und ich nur manchmal. ;).
      Liebe Grüße

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  2. Lieben heisst immer auch, die Freiheit des anderen zu respektieren und loszulassen, auch wenn es verdammt weh tut. Ich wünsche es Dir und ihm, auch wenn uns das dereinst wohl um den einen oder anderen starken Text bringen wird.

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  3. Ich habe ein Tonband mit einer Aufnahme von „ihm“, kann es bis heute nicht anhören. Manchmal nehme ich es in die Hand. Nur einen Knopfdruck weit ist er dann weg … aber nein.
    Bei dir zu lesen, ist nichts für Weicheier ❤

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