Ein fremder Kopf – und ein Kern I

Ich mag´s ja, in fremde Köpfe einzudringen. Mag es auf Gedanken, die mir fremd sind, so lange herumzukauen, bis ich sie ausspucke oder genüsslich schlucke. Besonders fein ist es in kluge Köpfe einzutauchen. Sich etwas abschauen oder überraschend etwas ganz Neues zu finden. Unangenehm wird es erst, wenn man unvorsichtig an Gedanken knabbernd,  auf etwas nur schwer zu schluckendes stößt. Eben noch schmeckt das sprudelnde Gespräch wie eine saftige Pflaume, bis man unvermittelt auf den harten Kern im Fruchtfleisch stößt. Ausspucken ist unhöflich. Schlucken unmöglich – man könnte daran ersticken. Dann hat man ihn ihm Mund, den Kern. Für eine Weile ist es ganz in Ordnung. Er schmeckt ja noch süß und saftig, ist noch nicht ganz blank gelutscht. Die Kanten sind nicht allzu scharf. Man kann ihn in die Backentasche schieben und auf einen unbeobachteten Moment warten, um ihn auszuspucken. Dumm ist es, wenn man ihn vergisst und ihn versehentlich schluckt, weil man sich gerade so wohl fühlt und gar nicht ans Ersticken denkt. Dann wandert er in den Magen und bleibt dort liegen. Gedankenkerne lassen sich nicht einfach ausscheiden. Sind sie erst mal geschluckt, dann bleiben sie im Inneren. Bei manchen führen sie zu Magengeschwüren und dauerhaften Schäden. Bei mir nicht. Ab und zu stößt er mir auf. Nicht mehr sauer. Er ist jetzt blankgeputzt und schmeckt fast schon wieder nach süßen Pflaumen. Ähnlich wie Weizenkörner, deren Geschmack nach langem Kauen auch seltsam süß wird.
Wenn einem die Galle nicht mehr hoch kommt und man bei einem ungewollten Gedankenkern nicht mehr würgen muss, dann kann man sich an einen Sommertag zurück erinnern und in einen fremden Kopf eindringen. Ein Kopf, mit wachem Geist, der nicht viel von Sinnsprüchen hielt. Mit denen konnte er nichts anfangen. In seinem Kopf ging es anders zu als in meinem…

Das Leben ist ein Geschenk. Von allen Sinnsprüchen, die er in seinem Leben bereits gehört hatte, erschien ihm dieser am lächerlichsten. Ein Geschenk zu erhalten bedeutet im besten Fall, dass ein zuvor gestellter Wunsch erfüllt wird. Im schlechtesten, dass ein weiterer Staubfänger im Regal steht und nur aus Pietät nicht sofort wieder in den Müll geworfen wird. Das Leben als Geschenk zu sehen, war idiotisch. Betrachtet man die Fortpflanzung der Menschheit global, war die Anzahl der geplanten, geliebten und gesunden Kindern, die eine Chance auf ein gutes Leben hatten, viel zu gering, als dass man vom Geschenk des Lebens sprechen konnte. In der westlichen Welt, mag das neue Leben ein Geschenk für die Eltern sein, ob es aber tatsächlich ein Geschenk für den Abermillionsten neuen Erdenbürger ist, zeigt sich erst in den auf die Geburt folgenden Jahren und wird vermutlich erst während des letzten Atemzuges endgültig geklärt werden. Ein Geschenk sollte keine Bedingungen enthalten und an keine Erwartungen geknüpft sein. Das Geschenk des Lebens aber, ist mit schier unendlichen Klauseln, Vorgaben und Einschränkungen versehen. Keiner wird gefragt ob er das Leben möchte, aber wo er es denn nun schon einmal hat, möge er gefälligst auch das Beste daraus machen.
Fast so sehr wie den Spruch über das Geschenk des Lebens hasste er die längst hip und schick gewordene Aufforderung des „Carpe diem!“. Kein Vorschlag. Eine Forderung. Nur ja keinen Tag und keinen Moment verschwenden. Das Geschenk des Lebens ist schließlich endlich und die Stunden, Tage und Jahre die man hat, begrenzt. Deine Eltern haben dir das Leben geschenkt. Freu dich gefälligst, mach was daraus und mach sie stolz. Genieß deine Kindheit, in der du mit etwas Glück, tatsächlich noch mit beiden Händen nach jedem neuen Tag greifst und ihm die Chance gibst, der beste deines Lebens zu werden – ohne das dich jemand daran erinnern muss. Später wirst du rund um die Uhr daran erinnert. Unzählige Filme suggerieren, dass das Leben schön ist. Und wer kein schönes Leben hat, der hat etwas falsch gemacht. Carpe diem! Nutze den Tag und nutze ihn gefälligst mit dem nötigen Respekt, den er verdient hat. Freu dich des Lebens! Du hast nur eines und es interessiert keinen ob du es gewollt hast oder nicht. Du hast es und nun mach etwas daraus. Sei dankbar, dass du in Deutschland geboren bist. Einem Land in dem dir alle Möglichkeiten offen stehen. Ein Land in dem du jeden Traum leben kannst. Und im Gegensatz zum vielgerühmten Land aller Möglichkeiten sogar noch Kranken- und Arbeitslosenversicherungen mit auf den Weg bekommst. Du wirst aufgefangen. Keine Ausreden. Stürz dich in dein Leben und gib jedem Tag die Chance, der beste deines Lebens zu werden – eine weitere Aufforderung, die ihm Brechreiz verursachte. In der Mittelschicht geboren, steht es dir nicht zu, aus deinem Leben nichts zu machen. Am Tage deiner Geburt schon, sind die Voraussetzungen für ein gutes Leben gegeben. Immer vorwärts, nutze dieses Geschenk. Und egal was du tust, verschwende keine Zeit. Willst du wirklich einen Tag einfach nur auf dem Sofa liegen oder sinnlos, aber höchst angenehm auf den warmen Steinen einer Uferpromenade liegen? Gut, mach es. Aber verkaufe es als Rückkehr zur Langsamkeit, zum Müßiggang oder einem anderen gerade modernen Mist. Völlig egal. Aber, gib nicht zu, dass es dir scheißegal ist ob der Tag irgendeinen Sinn hatte oder nicht.

Der Spätsommertag, als wir die Mittagspause in der Sonne liegend verbrachten, war zu schön um ihm krampfhaft einen tieferen Sinn andichten zu wollen. Ich aß Pflaumen und war zu träge um dem Monolog, der mir ein wenig zu hart erschien, etwas entgegen zu setzen. Meinetwegen. Irgendwo hatte er ja recht. Auf dem Rückweg, als er mir seine Telefonnummer zusteckte, verschluckte ich versehentlich einen Kern.

26 Gedanken zu “Ein fremder Kopf – und ein Kern I

  1. Hm, da lese ich „..und ein Kern I“ – also kommt noch etwas…

    Bisher ging ich gern lesend, auch nickend mit. Bin gespannt ob der verschluckte Kern noch einen bestimmten Geschmack bekommt. Manchmal kommen diese Kerne aber auch wirklich so unvermittelt im Genuss, dass man froh sein darf, wenn alle Zähne ganz blieben… 😉

    Beste Grüße aus der Genuss affinen Silbenkemenate,
    Silbia

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  2. Nach und während dem (mehrmaligen) Lesens schossen mir mehrere Gedanken durch das greise Haupt.
    Nicht nur, das ich die laufende Musik (John ‚Lee‘ Hooker, Pupo) abstellen musste, um mich voll konzentrieren zu können.

    1. Was hat die Mitzi umgetrieben, welche Umstände haben diesen Text „getriggert“?
    2. Den jungen Mann hätte ich auch sehr gerne kennen gelernt!
    3. Was für ein glücklicher Umstand, das ich auf Mitzis Website aufmerksam wurde!

    Nicht nur, das der Inhalt, die Feststellungen und Deine Aussagen über gewisse gesellschaftliche Zwänge, Korsetts und Forderungen meiner persönlichen Auffassung entsprechen.
    Die Diktion, die Wortwahl, die Erzählform haben mich (hier nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal) begeistert. Großes, ganz großes Kino, nur eben in Schriftform.
    Weitere, und völlig berechtigte positive Adjektive schenke ich mir und Dir. Du weißt, was ich sagen will. Viele Grüße

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    1. Ich will´s dir gerne verraten.

      Ein fremder Kopf, spiegelt nicht meine Gedanken wieder, sondern die eines Menschen, der mir sehr nahe stand. Es war eines der ersten Gespräche, das wir führten und sein leidenschaftlicher Monolog ist mir gut im Gedächtnis geblieben. Wenn ich daran denke, dann höre ich ihn noch und merke, dass sich mein Schreiben seinem Reden anpasst.

      Es ist ein wenig unfair nur dieses Bruchstück herauszupicken, weil es auch nur einen kleinen Teil der Gedankengänge ist, die ihn damals herumgetrieben haben, behandelt.
      Ich mochte seinen Kopf und die Gedanken darin, sehr gerne. Wahrscheinlich auch, weil ich wusste, dass seine überspitzten Formulierungen und Thesen immer nur die oberste Schicht von tiefer liegenden Gedanken waren.

      Ich danke dir für die geschenkten und auch die nicht getippten positiven Adjektive – sie sind sehr schön und werden an besonderer Stelle aufbewahrt.

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  3. Eigentlich hat mich die Denkweise …angeekelt und ich war geneigt, hier einfach nur TYPISCHE OPFERITIS zu attestieren ;-)…jedoch wäre das Dir gegenüber, liebe Mitzi, unfair gewesen. Weil Du den Blick auf dieses fremde Kopfuniversum so unglaublich realistisch dargestellt hast. Deshalb schmunzel ich jetzt einfach drüber und übe mich im Pflaumenkern-Weitspucken 😀
    Liebe Wochenendgrüße
    Andrea

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  4. lach die ersten Zeilen haben mich daran erinnert, dass ich früher Angst hatte davor mit vermeidlich „schlaueren Leuten“ zu reden mich über meine und ihre Gedanken auszutauschen. Irgendwann allerdings merkte ich, dass es erstens auch nur Menschen sind und zweitens dass sie alle auch schwache, dunkle und dumme Seiten an sich haben….Also auch der Prof, der Dr, und der Studierte sowie Künstler sind nicht besser als andere Leutz…

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    1. Das sind sie sicher nicht….besser oder klüger. Allenfalls haben sie gelernt ihre Meinung besser zu formulieren. Oder ihr Nichtwissen besser im Gespräch zu umschiffen.
      Dumm und klug gibt es in allen Bildungsschichten.
      Bei Künstlern tue ich mich aber auch schwer. Nicht weil ich sie für klüger halte, sondern weil ich bei Kunst nur schwer Worte finde um zu erklären warum mir nun ein Bild oder ein Musikstück gefällt.
      Liebe Grüße

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