Man könnte…. U-Bahn Gedanken

Man könnte so vieles. Man könnte zum Beispiel in der warmen S-Bahn sitzen bleiben. Man könnte tiefer in die Polster sinken und für einen Moment die Augen schließen. Man könnte einschlafen, die elfte Station verpassen und draußen vor der Stadt den Tag im Winter-Sonnenlicht verbringen. Man könnte. Und man möchte. Aber man darf ja nicht. Von Montag bis Freitag ist träumen und wünschen nur elf Stationen lang erlaubt. Man könnte sie nutzen, die elf Stationen, und den Konjunktiv im warmen Bett zurück lassen. Dort würde er sich träge zwischen den Laken räkeln und so nutzlos sein, wie du es ihm immer unterstellt hast.
Könnte, hätte, würde. In zwei Drittel der Fälle handelt es sich um feige oder faule Ausreden, sagtest du. Hätte, hätte, Fahrradkette. Aussprüche wie diesen hast du mir erspart. Solcher Blödsinn kam dir nicht über die Lippen. Ein knappes „mach doch“, wenn ich von „man könnte“ sprach, lag dir mehr. Noch mehr als die Aufforderung, mochtest du das Machen selbst. Oder das Nicht-Machen. In beidem warst du gut.

Die Starbucks-Kaffeebecher in den Händen der beiden mir gegenüber sitzenden Menschen, erinnern mich an dich. Noch zehn Stationen. Man könnte ihnen sagen, dass es schwachsinnig ist knapp vier Euro für einen Café Latte auszugeben. Die Zeit bis zu meiner Haltestelle würde reichen. Ihr rausgeschmissenes Geld ist aber nicht mein Problem. Man könnten ihnen auch sagen, dass es gedankenlos und ignorant ist, die Müllberge Tag für Tag mit ihren Bechern anwachsen zu lassen. Das ist mein Problem. Unser aller Problem. Neun Stationen für eine Standpauke, die niemanden außer mir interessiert. Mach doch. Sag´s ihnen, höre ich dich schmunzelnd flüstern und erschrecke, weil du dich unbemerkt neben mich gesetzt hast. Ich lächle und bin mir sicher, dass du es gemacht hättest. Nein, gemacht hast. Du hast mir ja davon erzählt. Ich habe es nur vergessen und jetzt an der achten Haltestelle fällt es mir wieder ein. Wahrscheinlich, weil einer seit Minuten versucht, den zehnten Pappbecher in das kleine Kästchen für Müll zu stopfen. Ich will ihn nicht beim Scheitern beobachten und konzentriere mich lieber auf dein Bild in der Scheibe. Wortlos erzählst du mir eine Geschichte, die ich schon kenne.
Vor Jahren einmal hast du morgens an der Tram auf die gewartet, deren Anblick dich Tag für Tag  aufs Neue aufregte. Die Tasche vollgepackt mit langlebigen Thermobechern, hast du auf sie gewartet. Grinsend hast du jenen, die an ihren Styroporbechern leckten, nippten und saugten, die Thermobecher in die Hand gedrückt. Schweigend, weil du mit denen, die dir dumm erschienen, nur selten gesprochen hast. Hast dir gegen die Stirn getippt und bist mit einem stillen Lächeln in die Straßenbahn gestiegen. Drei von fünf hast du Tage später, mit den geschenkten Bechern in der Hand gesehen. Zwei nie wieder. Einen guten Schnitt, nanntest du es damals und ich sehe dich in der Scheibe schmunzeln. Wenn ich die Augen schließe, wird dein Bild verblassen. Ich sehe dich nur mit offenen Augen. Ich könnte dich vertreiben, will aber nicht. Viel lieber möchte ich dich fragen, ob man nicht einfach weiter fahren könnte. Nicht noch zwei, sondern zwanzig Stationen. An den See, an dem wir einmal lachten. Oder zu dem kleinen Cafe, wo man Getränke in kleinen Tassen und nicht in großen Bechern verkauft. Ein anderes mal, murmelst du und dein Bild wird durchsichtig. Ich bleibe zurück und beobachte den noch immer andauernden Versuch, einen Starbucks Pappbecher auf die Größe eines winzigen Würfels zu pressen. „Man könnte“ setze ich an und verstumme. Noch eine Station und ich muss aussteigen. Als ich aufstehe, sage ich leise: „Man kann sich auch blöd anstellen.“

Und dir sage ich, laut und nicht leise, dass der Konjunktiv etwas ganz Feines ist. Man hätte es sich mit ihm gemütlich machen können. Hätte für den Rest des Lebens  zwischen den Laken liegen bleiben können. Überhaupt hätte man dem Leben eine Chance geben können. Man hätte einfach weiter gelebt, geliebt und langlebige Thermobecher an Idioten verteilt. Ich, die von Grammatik keine Ahnung habe, hätte dich auch mit reichlich Imperativen versorgt. Am ausdauerndsten mit „Leb!“ Meinetwegen auch mit trink! atmete! tobe! schreie! oder renne! Nur spring! hätte ich sicher nicht gesagt.

Und jetzt verschwinde endlich. Ich muss hier aussteigen.

 

43 Gedanken zu “Man könnte…. U-Bahn Gedanken

  1. Ich könnte schreiben, dass mir dein Text gefällt. Auch, dass es sein könnte, dass die Menschen, denen man einen Thermobecher schenkt, schlicht zu faul sind, diesen abzuwaschen und jeden Tag zu befüllen und mitzunehmen… ich würde mir auch ausmalen…
    Nein, liebe Mitzi, das will ich dir gar nicht so schreiben. Eher, dass ich mich habe mitnehmen lassen über die Stationen und da war ein feines Gefühl beim Lesen.. ganz nah bei mir. Es huschte schnell durch meine Erinnerung und meinen Sinn- oder Unsinnsnutzen des Konjunktivs und des Imperativs. Danke dafür! 🙂

    Liebe Grüße aus der Silbenkemenate,
    Silbia

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  2. Liebe Mitzi,
    mit Ihnen U-Bahn zu fahren bereitet wirklich Freude!
    Was den Konjunktiv angeht, sollten wir in benutzen, wie es uns gefällt. Diese Freiheit möchte ich uns gestatten, solange wir den Konjunktiv ausnahmsweise egoistisch für uns alleine und nicht wehklagend nutzen, und er sich nicht gegen andere Menschen richtet und ihnen einreden will, was wir hätten tun können, wen andere uns daran nicht gehindert hätten.

    Ihre Art, Ihre Gedanken und Gefühle in Geschichten zu verpacken, ist großartig!

    Gruß Heinrich

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  3. Es zerreißt mir das Herz. Für mich schwingt so viel Traurigkeit und Trauer in deinen Zeilen mit, die den Verlust, den man am eigenen Leib, der andere Hintergründe hat, aber dennoch ein Verlust ist, wieder wahrhaftiger erscheinen lässt. Man trägt sie mit sich herum, die Menschen, die einem verloren sind. Danke für einen weiteren Text, der berührt.

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    1. Es ist ein Kompliment, wenn du mir sagst, dass ich dich berührt habe und gleichzeitig tut es mir leid, dich traurig gemacht zu haben. Zu schnell, stupst man die verborgene Traurigkeit eines anderen an.

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    1. Melancholisch, mit angefressenem Unterton – der über den ich schrieb, hätte das sofort herzhaft lachend als Formulierung für künftige Beschreibungen meiner Stimmung übernommen! 🙂

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  4. Toller Text voll Trauer und Wehmut. Und wieder diese Gegenwart, die Dich nicht loslässt… und die Du nicht wirklich loslassen willst. Das erinnert mich an Deine Silvester Geschichte.
    Ich keine Deine Texte noch nicht so lange, aber der vorletzte Satz stimmt mich nachdenklich…

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  5. Man könnte….
    Dich stundenlang stumm begleiten, Dich beobachten, beim U-Bahn fahren, beim Nachdenken, beim Kochen, beim Einkaufen, die Veränderung deiner Gesichtszüge aufmerksam verfolgen, Überlegungen anstellen: „Was mag sie jetzt gerade denken?“.

    Man könnte kommentarlos, mit seinen eigenen Gedanken über das Gelesene die Website verlassen, sich verschließen, einen Kommentar als gegenstandslos einstufen.

    Man kann sich auch äußern, versuchen der melancholischen, traurigen Stimmung gerecht werden, die einen empathischen Menschen überkommen wird. Eigene Erlebnisse schildern, Revue passieren lassen, versuchen ein Gefühl von „Du bist nicht allein“ beim Angesprochenen entstehen zu lassen. Oder, oder, oder….

    Ich befürchte, dein imaginärer Begleiter, der verschwinden soll und doch immer dein Begleiter sein wird, den Du loslassen sollst und doch nicht loslassen kannst und willst, nur manchmal und dann doch nicht wirklich, ist kein Stilmittel.

    Er war real und ist es für Dich immer noch.
    Du willst ihn nicht „verraten“, obwohl er Dir vielleicht manchmal im Wege steht, bei was auch immer.
    Akzeptiere ihn einfach als einen Teil von Dir, in deiner ganz persönlichen Erinnerung fest verankert.
    Liebe Grüsse

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    1. Úm im Thema zu bleiben….man könnte…auf einen Kommentar, den man so gerne und mit einem Lächeln auf Lippen, gelesen hat, ganz vieles erwidern. Man mag ihn so gerne, dass man hofft, der andere versteht was alles in einem herzlichen „Danke, dir“ enthalten ist.
      Liebe Grüße

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      1. Der „andere“ hat es verstanden und freut sich sehr über das „Danke, dir“.
        Denn, man muss nicht alles „breit treten“.
        Diese zwei Worte sind völlig ausreichend

        Und ich schreibe schon wieder zu viel…..

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  6. Es ist ja eine besondere Weise zu sein, in einem Schienenfahrzeug zu sitzen und sich transportieren zu lassen. Manche lassen dabei ihre Gedanken spazieren, manche tun das eher nicht, sondern sind gedanklich mit der schwierigen Aufgabe beschäftigt, Becher zu zerknüllen und Müll zu erzeugen. Es zeichnet dich aus, liebe Mitzi, dass du zur ersten Gruppe gehörst, überlegst, wie das tägliche Einerlei zu durchbrechen wäre. Da wäre schon das Fahren über die 11. Station hinaus ein Ausbruch. Der Text ist so schön gebaut. „Machs doch!“ Diese innere Stimme, die dich ermuntert, wird im Verlauf der Fahrt personalisiert, plötzlich sitzt eine eng vertraute Person neben dir. Dieser Mann ist dir offenbar einst Vorbild und innerer Halt gewesen. Man spürt als Leser deine Traurigkeit und das Bedauern über diesen Verlust. Da wird die Realität in dieser U-Bahn ganz dünn, ist nämlich hauptsächlich Konjunktiv, in diesem Falll sowas wie Irrealis. Der letzte Abschnitt könnte einen zu Tränen rühren und fast ist man froh, dass deine Enhaltestelle erreicht ist und du der Realität den Vorzug gibst, weil du dich wieder gefasst hast.

    Die Fahrt war so schön, so reich an Gedanken und so traurig,

    Ich wünsche dir einen schönen Tag,
    Jules

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    1. Lieber Jules, manchmal glaube ich nur zu schreiben um so schöne Kommentare, wie den deinen zu erhalten. Nicht wegen des Lobes. Viel mehr, weil es etwas ganz besonderes ist, meine Gedanken noch einmal in deinen Worten zu lesen. Von Herzen, danke dafür.

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      1. Mich freut sehr, wenn du dich verstanden fühlst, liebe Mitzi. Und gerrne motiviere ich dich. Es war ja mal Teil meines Berufs, besondere Anlagen in Menschen zu entdecken und zu fördern. Daher begleite ich aufmerksam, was du in deinem Blog veröffentlichst.

        Lieben Gruß,
        Jules

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  7. Das fiel mir gerade wieder ein:

    Auld lang syne. (Jetzt müsste ich das so mit dem link können, wie Pantoufle es erklärt hat)

    Should auld acquaintance be forgot
    And never brought to mind?
    Should auld acquaintance be forgot,
    and days of auld lang syne?

    Refrain
    For auld lang syne, my dear
    For auld lang syne
    We’ll take a cup o’kindness yet
    For auld lang syne

    And surely ye’ll be your pint-stoup
    And surely I’ll be mine
    And we’ll tak a cup o’kindness yet
    For auld lang syne.

    We twa hae rin aboot the braes,
    and pu’d the gowans fine
    But we’ve wander’d mony a weary fit,
    sin auld lang syne.

    We twa hae paidl’d i’the burn,
    frae morning sun till dine
    But seas between us braid hae roar’d,
    sin‘ auld lang syne.

    And there’s a hand, my trusty fiere
    And gie’s a hand o’thine
    And we’ll tak a right gude willie-waught
    for auld lang syne.

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      1. Liebes Blumenfräulein,
        leider hat das mit dem Kurzfilm meine „Schutzpatronin“ (siehe Bild – Mitzi hat das so bestimmt, das Angie meine Schutzpatronin ist) versemmelt.
        Anno 2008 musste sie sich entscheiden: Bankenrettung oder Kurzfilm. Das Ergebnis ist bekannt und war „alternativlos“.
        Ich kann wirklich nichts dafür, trotzdem bin ich mir sicher: „Du schaffst das!“
        In tiefer Betroffenheit
        Michael

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      2. … der Kommentar bezog sich auf Erinnerungen, die dort sind wo sie hingehören… in eine Schöne Vergangenheit … alles gut… nichts desto trotz erinnere ich mich an die Übergangszeit, die Mitzi so gut beschreibt und das Lied passte so gut zur Szene… lieben Dank für deinen Kommi, man schafft das da hast du völlig Recht! LG Rita

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      3. Liebe veehrte Mitzi,
        es fällt mir schwer, Dir einen Gefallen abschlagen zu müssen.
        Aber Angela ist für meine „Zwecke“ wesentlich besser geeignet als Helene Fischer,
        obwohl sie ja viel besser singen kann.
        Was auch keine Kunst ist, im Vergleich zu…. (und somit leider auch kein Kompliment an H.F., Sorry!)

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  8. Hallo Mitzi!
    Wenn man das so liest, sieht man Dich förmlich in der U-Bahn sitzen und den Starbucks -Kaffeetrinker aus den Augenwinkeln beobachten… Diese Atmosphäre in der Münchner U-Bahn hat mich, als eingefleischtes Landei, immer gestresst! Und diese vielen Pappbecher! Besonders der auf meinem Schoß hat mich immer sehr gestört, da war der Thermobecher, den mir eines Tages so einTyp in die Hand gedrückt hat, ein Segen! Leider habe ich ihn nie mehr gesehen! Nr. 4! ;-). Nee Quatsch, Starbucks konnte ich mir damals nicht leisten, ich war ja Studentin… Eigentlich ja traurig, aber immerhin beschert uns Deine nie zu versiegen scheinende Erinnerung an diesen Kerl- so wundervoll melancholische Geschichten! Ich bin schon gespannt, wenn Du von den Schmetterlingen im Bauch erzählst… Du hattest ja in Deiner letzten (Anti-Baby-)Geschichte so eine Andeutung gemacht. Auf der anderen Seite braucht man natürlich auch nur das erzählen, wozu man wirklich Lust verspürt! Alles Liebe, Nessy von den happinessygirls

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    1. Nessy mit dem vierten Becher. Das wäre was gewesen. :)))
      U-Bahnen sind schrecklich. Da muss man zu Gedankenfluchten greifen. Mit den Erinnerungen werden sich die Leser hier wohl noch lange rumschlagen müssen. Das haben wir dem Kerl zu verdanken, der bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Schmetterlinge sind aber viel zu schön, um sie nicht irgendwann zu teilen ;).

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  9. Ein beeindruckender innerer Monolog verteilt auf eine Pendel-Fahrt zwischen einigen Stationen in einer Stadt im Irgendwo…

    in sanfte Melancholie sind deine Worte gehüllt, herrliche mono no aware Stimmung macht sich beim Lesen in mir breit, so richtig wohltuend…

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