Heute nur noch Birken

Die Stille hat mich angeschrien. Ich weiß nicht ob es ich war, die diesen Satz irgendwann gedacht habe, oder ob ich ihn gelesen und mir heimlich zu eigen machte. Es ist nicht wichtig. Dass Stille sehr laut werden kann, ist eine Erfahrung, die nicht nur einer Person gehört. Besonders laut war es an einem Nachmittag im März vor zwei Jahren, als ich fröstelnd in einem Birkenwäldchen stand und auf den breiten Rücken meines Vaters blickte. Es war sehr still. Keine größere Straße war in der Nähe, keine Menschen zu sehen und selbst die Vögel zwitscherten an diesem kalten Frühlingstag nur sehr verhalten. Seit über einer halben Stunde liefen wir durch das kleine Waldstück. Erst nebeneinander und uns unterhaltend, irgendwann mit immer größer werdenden Abstand und schweigend. Ich weiß nicht, woran mein Vater dachte, als er mit mir zwischen den Bäumen entlang ging, ich bin mir sicher, dass es in seinem Kopf ähnlich laut war wie in meinem.

Ich streifte durch das Dickicht und versuchte die Erinnerungen an die unzähligen Erzählungen meiner Großmutter und ihrer Schwestern mit dem was ich sah in Einklang zu bringen. Es gelang mir nur schwer. Ohne die Halbsätze meines Vaters schaffte ich es nicht. Ab und zu blieb er stehen und wartete, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann deutete mit einer kaum sichtbaren Kopfbewegung auf die eingesunkenen und überwucherten Reste einer Mauer. Von den einstigen Barracken, war kaum noch etwas zu erkennen. Ich wunderte mich, wie deutlich ich sie dennoch vor Augen hatte. Es war leicht, sich das Flüchtlingslager, in dem mein Vater aufgewachsen war, vorzustellen. Ein Mauerrest reichte. An manchen Stellen auch nur die Erinnerung an etwas, das man mir vor langem berichtete. Weniger wegen der Fotos, die aus dieser Zeit stammen und die ich besitze. Sie sind nur Momentaufnahmen die mir fremd sind. Vertraut sind mir dagegen die unzähligen Geschichten, die man mir darüber erzählt hat. Viele dieser Erzählungen habe ich so oft gehört, dass ich sie fast für eigene Erinnerungen halten könnte. Meine Großmutter ist seit über fünfundzwanzig Jahren nicht mehr am Leben und ihre letzte Schwester im vergangenen Winter gestorben. Ihr Leben in Geschichten ist dagegen noch sehr lebendig. Ich habe nie erlebt, wie ist es ist, wenn man die Heimat von heute auf morgen verlassen muss. War nie auf der Flucht und landete nie für Jahre in Siedlungen die weder fremd noch Heimat waren. Ich kenne nur die Erzählungen darüber. Geschönt, für die Ohren eines Kindes und doch viel drastischer berichtet, als man es heute einer Fünfjährigen zumuten würde. Es hat nicht geschadet. Ich habe erst viele Jahre später zurück blickend erkannt, wie schwer es für sie gewesen sein muss. Trotzdem haben sie mir lieber die lustigen oder gruseligen Geschichten erzählt. Ein Großteil der Erzählungen spielte im heutigen Tschechien, lange bevor mein Vater überhaupt auf die Welt kam. Es hat wenig mit dem ehemaligen Flüchtlingslager nahe Füssen zu tun, an dem sie nach dem Krieg strandeten. Und doch fühle ich mich an diesem Nachmittag den Geschichten sehr nahe.

Ich merke, dass ich vieles durcheinander bringe. Mein Vater rückt es geduldig zurecht. Nach einer Weile werden seine Schritte langsamer, bis er ganz stehen bleibt. Hier war der Kindergarten, sagt er. Er beginnt zu erzählen und kann es genauso gut wie meine Großmutter und ihre Schwestern. Genauso wenig, wie ich sie früher beim erzählen nicht stören wollte, mag ich an diesem Tag auch ihn nicht unterbrechen. Ich stehe neben einer Birke und höre einfach nur zu, während es laut wird, im kleinen Wald. Es lachen Kinder. Eines von ihnen ist heute mein Vater. Sie toben und spielen. Werden älter. Haben ihre eigenen Sorgen, Wünsche und Träume.  Ich höre heute zum ersten Mal von ihnen. Dass er nach Amerika wollte, als Schweißer auf einem Schiff, wusste ich nicht. An der Stelle, an der wir stehen ist nichts mehr. Und doch scheint jeder Grashalm die gleichen Erinnerungen wie ich gespeichert zu haben. Ein Stück des Gebietes ist eingezäunt. Vor dem Zaun stehend höre ich was früher dort gewesen ist. Die Reste einer Bunkeranlage sind noch zu erkennen. Auf dem begrasten Hügel sitzt ein Känguru. Was es da zu suchen hat wissen wir nicht, aber wir sehen es. Ich habe mich nie erkundigt, ob hier jetzt jemand Kängurus züchtet. Die Antwort könnte dem bizarren Moment kaum gerecht werden.
Wochen später suche ich das Foto der Baracke, die als Kindergarten gedient hat. Heute stehen dort nur noch Birken. Und ein Känguru bewohnt den alten Bunkerhügel.

Später fahren wir ein Stück mit dem Auto bis zum Inn. Hier ist es lauter. Im Vorbeifahren zeigt mir mein Vater die Stelle, an der er schwimmen lerne. Es ist nur ein kurzer Moment an dem ich das Uferstück sehe, aber ich weiß, dass es mir bleiben wird. Irgendwann, werde ich alleine zurück kommen. Dann, wenn ich mich meinem Vater ganz nahe fühlen möchte. Warum es genau dieser Ort sein wird, den ich für immer mit ihm verbinden werde, kann ich nicht sicher sagen. Aber ich spüre, dass all die Orte ich ihm bisher zugordnet habe, in erster Linie für mich und nicht für ihn wichtig waren. Das was ihn geprägt hat, liegt irgendwo zwischen den Mauerresten im Birkenwald und der Stelle am Inn verborgen. Würde ich ihn fragen ob es stimmt – er würde abwinken und nichts weiter dazu sagen. Dass muss er auch nicht. Ich mag mich täuschen, aber ich glaube ein Teil von ihm ist dort geblieben. Still und laut zugleich.

25 Gedanken zu “Heute nur noch Birken

  1. Danke schön, für diese liebevolle Erzählung. Es könnte die Geschichte meiner Eltern sein, nur war unser Lager im Schwarzwald. Ich erinnere mich seltsamerweise auch an ein Birkenwäldchen dort, darunter wuchsen Pilze. Sonst habe ich keine Bilder mehr von dort, ich war erst vier Jahre alt. Aber nie würde ich diesen Ort einer der Familie zuordnen, die Orte die passend wären, habe ich nie besucht: Tschechien und Polen.

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      1. So Zwischenstationen sind selten Orte an denen man festhält oder sich gerne erinnert, eher an das davor. So habe ich das bei meinen Eltern erlebt. Die Zeit in Lagern (Friedland und dann im Schwarzwald) wurde nie erwähnt nur bei Nachfrage kleine Geschichten erzählt. Aber wenn man überlegt, was diese Generation so erlebt hat, wundert es nicht, dass diese Zwischenstationen untergegangen sind. Da gab es so viel Schreckliches, dass es zu berichten gab.

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  2. Du vermittelst hier ein schönes Bild, wie Vater und Tochter sich einträchtig auf Spurensuche begeben. Mit dem Vertrauensverhältnis, das da zum Ausdruck kommt, gehts weit weniger um Vergangenheit, als das Thema deines Beitrags vermuten lässt. Es ist natürlich alles Wahrgenommene Erinnerung, aber da sind verschiedene Schichten. Manches hat die Natur überwuchert, manches lässt du in deiner Vorstellung wiederaufleben wie die Kinderstimmen, manches sprudelt gegenwärtig wie der Fluss, dessen ganz bestimmte Stelle jetzt zu deiner jüngeren Vergangenheit gehört. Unklar bleibt in deinem wunderbar vielschichtigen Text, ob das Känguru ein surreales Element ist. Liebe, nachdenkliche Mitzi,
    es ist rundum schön, woran du uns Leser teilhaben lässt. Und wieder dachte ich, da kommt sie von der Arbeit, setzt sich hin und schreibt mal eben so ein feines Stückchen autobiographischer Literatur!
    Kompliment!

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    1. Danke für das feine Kompliment, lieber Jules.
      Wenn das Känguru nicht real war, dann muss ich den ganzen Spaziergang geträumt haben. Nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Ein Känguru saß da….sehr seltsam.

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  3. Danke fürs Teilen deines Geschenkes!
    Gute Erinnerungen an und mit dem Vater zu haben, Verbundenheit und seine Bereitschaft, der Wunsch dich teilhaben zu lassen, dich wichtig zu nehmen. All das und noch viel mehr, macht deinen Text reich!

    Liebe Grüße aus der Silbenkemenate,
    Silbia

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  4. Ach, was soll ich sagen, was Du nicht schon so wunderschön erzaehlt hast. So anschaulich, so wehmütig, so sensibel beobachtend, so nachdenklich. Gerade in dieser Zeit, in der das
    Thema Fluechtlinge so
    aktuell ist. Ich wuensche Dir noch viele solcher Ausflüge mit Deinem Vater.

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  5. diese geschichten. ich bin so traurig, dass ich mir über die erlebnisse meiner großmutter keine notizen gemacht habe. so wie sie kann es keiner wiedergeben und sie ist vor 11 jahren gestorben. letztens habe ich meinen opa nach der einen oder anderen sache gefragt. aber anders wie dir fällt es mir gar nicht so leicht, ihn nach ihren geschichten zu fragen.

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    1. Ich kann es dir nachfühlen. Beim Schreiben merkte ich, wie vieles ich schon vergessen habe. Mein Vater wollte nicht allzuviel dazu sagen, aber ich habe wohl auch einiges verdreht oder anders in Erinnerung gehabt. Man müsste sie als Erwachsener noch einmal treffen, die die es ursprünglich erzählt haben. Obwohl…wer weiß ob sie dann so frei erzählen würden. Zumindest meine Großmutter wohl kaum.

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