ENDE 2015

Ohne Happy End geht’s nicht. Flüstert er leise, während er auf meiner Bettkante sitzt und lächelt. Ich nicke und beobachte, wie der Rauch seiner Zigarette langsam zur Decke aufsteigt. Würde er wirklich auf der Bettkannte neben mir sitzen, hätte ich ihn längst gebeten die Zigarette draußen auf dem Balkon zu rauchen. Menschen die nicht real sind, dürfen auch im Schlafzimmer rauchen. Seltsamerweise riecht der nicht existente Rauch genauso wie der echte. Auch seine Stimme klingt echt, als sie mich ein zweites Mal nach dem Happy End fragt. Wieder nicke ich und ziehe mir die Strümpfe über die Beine. Ohne ein Ende geht es nicht. Im besten Fall, soll es ein gutes sein. Ich würde aber auch ein schlechtes nehmen. Der Zigarettenrauch hängt unter der Decke und ich deute darauf. Nur so, wie die Schlieren des Rauches, so darf es nicht sein. Kaum zu greifen, trüb und dreckig, nichts halbes und nichts ganzes. So etwas ist kein Ende.

Wohin gehen wir? Er zwinkert mir zu und ich zucke mit den Schultern. An das „wir“ habe ich mich längst gewöhnt. Ich gehe kaum alleine aus und schleppe ihn seit Jahren mit mir rum. Er steht hinter mir, wenn ich mir auf der Toilette einer Bar, die Lippen nachziehe und ich sehe ihn, wenn ich mir einen Gin Tonic bestelle. Dann umspielt seine Lippen ein amüsiertes, fragendes Schmunzeln, weil er weiß, dass ich Gin nicht vertrage und Tonic nicht mag. Es war sein Getränk. Als er noch bei mir war, habe ich beides nie getrunken und die nach Tonic schmeckenden Küsse nicht gemocht. Seit er weg ist, trinke ich es, weil ein Glas Gin Tonic ganz leicht nach einem Kuss von ihm schmeckt. Für heute habe ich Weißwein in den Kühlschrank gestellt. Nach dem Anstoßen passt er am besten zu Raclette. Die seit Jahren angebrochene Flasche Gin, habe ich weggeschüttet. Stück für Stück verschwinden seine Sachen. Er saß auf dem Rand der Badewanne als ich sie ins Klo kippte und nickte zustimmend. Angebrochen würde das Zeug nicht besser werden, kommentierte er mein Tun und verschwand, bevor ich mich zu ihm umdrehen konnte.

Wohin gehen wir? Er möchte wissen wo ich das Jahr beenden werde und ich kann es ihm noch nicht sagen. Stunden später sehe ich ihn mitten auf der leeren Kreuzung im Nieselregen stehen und lachen. Fragend zuckt er mit den Schultern. Hier? An dieser Kreuzung wo kaum ein Mensch auf der Straße ist? Genau hier, stehe ich mit einer Freundin. In der Hand halten wir Wunderkerzen und lachen über den wohl dümmsten Ort, an dem man an Mitternacht stehen kann. Weiter kommt man nicht, wenn man erst um 23:56 Uhr die Wohnung verlässt. Weiter muss man aber auch nicht kommen. Es passte. Vielleicht gerade weil es ein so bescheuerter Ort war. Er versteht es und verschwindet. Nicht ohne mir zuzuflüstern, dass wir uns gleich wieder sehen werden. Ich frage ihn wortlos, wie er sich so sicher sein kann, dass ich nicht einfach nach Hause und ins Bett gehen werde. Nicht ohne Happy End, sagt er. Ich sehe ihn nicht mehr, höre aber seine Stimme ganz nah neben mir. Im Bus über die Isarbrücke fahrend sehe ich ihn in der feiernden Menge stehen. Er lehnt an der Brüstung und blickt nicht wie all die anderen nach oben zum hell erleuchteten Himmel, sondern nach unten in das schwarze Wasser. Ohne sein Gesicht zu sehen, weiß ich, dass es verschlossen, nachdenklich und abweisend ist. Ein Ausdruck in seinen Augen, der mir ebenso vertraut wie verhasst ist. Ein Ausdruck, der mich selbst in der Erinnerung  noch frösteln lässt. So will ich ihn nicht sehen und bin froh, dass mir jemand lachend und plappernd gegenüber sitzt.

Ich sehe ihn ein letztes Mal in dieser Nacht, als ich mich gegen drei Uhr morgens auf die Zehenspitzen stelle und nach einem goldenen Luftballon greife. Er steht in der Ecke und lächelt. Nicht verschlossen und nicht abweisend. Vielleicht eine Spur erleichtert. Dein Happy End für dieses Jahr besteht aus einem goldenen Luftballon, fragt er mich und ich schüttle den Kopf. Nicht einem. Hunderten goldener, silberner und tiefschwarzer Luftballone, die über meinem Kopf an der Decke schweben. Er nickt mir quer durch den Raum zu und sein Bild verblasst. Es verblasst immer, wenn ich glücklich bin. Dann darf er gehen, dann brauche ich ihn nicht. Glücklich kann ich auch alleine sein. Nachts um drei, in einem Frisörsalon mit vielen ausgelassenen Menschen und unzähligen schillernden Ballonen an der Decke bin ich es. Vielleicht liegt es am Champagner. Vielleicht am vielen Lachen. Vielleicht an den perfekten Schuhen, die mich  durch die Nacht tragen. Es ist mir egal woran es liegt, solange ich mein Happy End bekomme. Ich laufe weiter, bis ich glücklich bin. Im Regen des Unglücks oder in der Unsicherheit stehen zu bleiben liegt mir nicht. Ich laufe bis ich an einen Ort gelange, an dem ich mich wohl fühle. Nicht stehen zu bleiben, habe ich von ihm gelernt. Wer zu lange auf einer Brücke steht und ins dunkel Wasser starrt, der springt irgendwann. Ich laufe weiter. Manchmal barfuß. Dann wenn die Füße schmerzen. Meistens ohne Ziel, weil es nicht wichtig ist. Das Laufen, die Bewegung und das Vorwärts streben ist wichtig. Das Ankommen passiert von alleine. In dieser Nacht in dem Moment, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und nach einem goldenen Luftballon greife. Ein goldener Ballon ist ein schönes Ende für ein  Jahr. Er sieht es genauso. Ich weiß es, ohne ihn danach zu fragen.

 

45 Gedanken zu “ENDE 2015

  1. Das ist eine Sichtweise, die mich gerade ins Nachdenken gebracht hat, weil sie so stimmt und ich in der Form noch nicht darüber nachgedacht habe: wir schleppen gewisse Personen mit uns herum. Immer. Ohne ihre materialisierte Anwesenheit. Sie teilen (fast) alles mit uns, selbst wenn wir noch so wollen, sie gehen nicht. Also gehen wir eben notgedrungen zusammen, was nutzt es.
    Bis man sie irgendwann irgendwo auf der Strecke irgendwo vergisst, ohne es zu bemerken. Es können Jahre vergehen.
    Dann können sie weg sein, für eine Weile oder für immer.
    Und, hmm, an dem Bild arbeite ich noch: dass das Verblassen einsetzt, wenn ich glücklich bin….
    Du hast Recht.
    Toller Text, ich werde ihn noch eine Weile mit mir herum tragen 😉

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    1. Danke dir für diese schönen Gedanken. Am Vergessen arbeite ich noch. Oder auch nicht. Ich will ja gar nicht vergessen, sondern festhalten, obwohl ich weiß, dass es nicht besonders klug ist. In den meisten Fällen, sollten wir aber wirklich irgendwann die Menschen zurücklassen, die uns längst verlassen haben und deren Gewicht noch auf uns lastet.
      Liebe Grüße

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      1. 🙂 sehr gerne.
        Hmm … tja, was ist schon klug, manchmal macht einem die Ratio da ja auch einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Es ist doch auch ein Unterschied zwischen dem Vergessen der Person oder des gemeinsam Erlebten oder schmerzlich Erfahrenen und dem Verblassen der Erinnerung an den Schmerz oder die Trauer oder den Verlust oder das Verlassen-Werden. Die Dinge brauchen ihre Zeit und das Hindurchgehen durch all die, ich sag mal, gehörig unangenehmen Gefühle eben auch. Sonst wirst du sie nicht los.
        Das hat vielleicht gar nicht soviel mit Festhalten wollen zu tun, sondern mehr mit ’noch nicht loslassen‘ können oder klar, wollen. Daran lässt sich natürlich arbeiten. Wenn man will. Und kann.
        Und solange schleift man denjenigen dann eben mit sich rum, da kann man ihm ja auch mal nen Schluck Wein anbieten, wenn er schonmal da ist. 😉
        Mit ‚hau endlich ab‘ funktioniert ja meistens nicht 😉
        Ja, das Loslassen …. es ist nicht leicht.
        Liebe Grüße zurück!

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  2. es ist schon interessant, darüber nachzudenken, was uns, unseren Charakter, unsere Denkweise ausmacht, welche Erfahrungen, Menschen, Erlebnisse uns begleiten und wieder verlassen….danke!!!!

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  3. Welch ein gelungener Auftakt am 3.1. 2016, obwohl er „Ende 2015“ heißt und (d)eine Sylvesternacht zum Thema hat.So geschickt hast du Erinnerung und reales Erleben verwoben, dass ich beim Lesen dachte, das hätte ich auch gern gekonnt. Aber natürlich kannst nur du so schreiben, liebe Mitzi, weil es deine spezielle Art ist, mit Erinnerung und Verlust umzugehen.

    Ich sah in der Silvesternacht vier Frauen glücklich beieinander stehen und brennende Wunderkerzen halten, derweil die tumben Männer einen um den anderen Raketenwerfer zündeten. Da dachte ich, wieviel feiner ist doch die Frau, und ich schätze mich glücklich, so eine feine , Wunderkerzen haltende Frau zu kennen, und wenn auch nur per Fernkommunikation.

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    1. Ohne die tumben Männer, hätten wir weniger Feuerwerk. Ich lass sie machen und freu mich am Ergebnis, solange sie nicht erwarten, dass ich ihnen Beifall klatsche. Aber ich gebe dir recht, das Funkeln einer einzelnen Wunderkerze ist wärmer, strahlender und schöner als das laute Krachen von ein paar müden Raketen.
      Auch ich habe das große Glück, einen sehr feinen Menschen hier kennen gelernt zu haben. Einen, der mich rot werden lässt, weil er so nettes über mich und meine Texte schreibt. Er könnte sogar mit Chinaböllern um sich werfen – ich würde es ihm nachsehen und mich nur leise wundern.

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  4. Nun spiegeln mir deine feinen Zeilen etwas und sie bestärken mich, auch weiterhin so damit umzugehen, wie du es hier und ich es dort mache.
    Klingt vielleicht etwas geheimnisvoll, aber ist für mich gerade in diesem Moment sehr tröstlich – daher danke ich dir!

    Liebe Grüße,
    Silbia

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  5. der held würde niemals rauchen … wenn du ihn auf deine bettkante lassen würdest … seine küsse schmecken nie nach GIN-Tonic … er verjagt zuverlässig jeden „STALKER“ … lässt andere typen geradezu unbarmherzig verblassen … läuft barfuss mit dir durch warmen sand und kalten schnee … ein Happy End ist bei ihm der normalfall … und ballons … haben ihn schon als kind fasziniert …

    nur gut,dass jeder weiss … dass der held nie eine BEWERBUNG schreiben würde 😳

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  6. Ein wunderschönes neues Jahr, mit vielen goldenen Luftballons, die immer dann auftauchen, wenn du sie gerade brauchst, unkaputtbar, jedem Wetter trotzend. Du musst nur nach oben schauen und sie vom Himmel pflücken, mit oder ohne Schuhe. Das wünsche ich dir, liebe Mitzi.

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  7. Was für ein schöner Text! Ich mag Deinen Stil, sehr flüssig und ausdrucksstark.
    Und ich mag die Mischung aus wehmütiger Nostalgie und Intimität einerseits und dem hoffnungsvollen Zugehen auf das Neue andererseits. Ein Text, der von Deiner Sehnsucht spricht und lebt.
    Danke!
    Beat

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    1. Freut mich, dass es dir gefällt. Und der Dank geht an dich zurück, Beat. Es tut gut zu hören, dass das Geschriebene „ankommt“ und nachempfunden werden kann. Liebe Grüße

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