Sanft und gelassen brüllend

Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Da können Sie jeden fragen. Ich bin auch eine ausgesprochen gelassene und in sich ruhende Person. Auch hier können Sie sich gerne erkundigen. Man wird Ihnen bestätigen, dass ich das bin. Im größten Chaos bin ich der Fels in der Brandung. Im Jahresendspurt wissen das vor allem meine Kollegen zu schätzen. Ich sorge für den nötigen Weihnachtsfrieden im Büro.

Als ich nach dem Studium in einer kleinen und feinen Firma zu arbeiten begann, rief der Firmengründer jährlich zum 15. Dezember den Weihnachtsfrieden aus. Das bedeutete, dass ab diesem Tag keine Kunden und Geschäftspartner mehr belästigt wurden. Nach außen traten wir bis hl. Drei König in den Winterschlaf und verschickten, wenn überhaupt, nur noch gute bis sehr gute Nachrichten. Wir rühmten uns einer Gelassenheit, die unsere Geschäftspartner an unserem Verstand zweifeln ließ. Den Weihnachtsfrieden gibt es schon lange nicht mehr. Weder in der damaligen Firma noch in meiner aktuellen. In den letzten Wochen des Jahres wird noch einmal richtig Gas gegeben. Warum soll man besonders aufwendige Arbeiten auch gleichmäßig über das Jahr verteilen, wenn man sie alle in die letzten vier Wochen packen kann? Warum sich bei Zeiten um Fristen und Abgaben kümmern, wenn man sein berufliches Umfeld in den Wahnsinn treiben kann, indem man erst pünktlich zur Adventszeit damit beginnt? Für mich ist das völlig in Ordnung. So ruhig, gelassen und geduldig wie ich bin, überblicke ich das Chaos milde lächelnd. Vorbei hetzenden Kollegen winke ich huldvoll wie die Queen von meinem Schreibtisch aus zu und übernehme gerne noch die eine oder andere extra Aufgabe. Dabei vergesse ich natürlich nicht zu betonen, dass das für mich kein Problem ist. Brauche ich ein paar Sekunden Ruhe, schaue ich aus dem Fenster. Da brennen die Lichter eines Christbaums und versetzen mich in eine penetrant gute Laune. Das sag ich auch jedem. Das ich gute Laune habe. Will er es nicht hören, schreib ich ihm eine Mail und teile mich schriftlich mit. „Schön, der Baum da draußen, oder? Liebe Grüße Mitzi.“ Ich passe mich auch gerne dem Wahnsinn zum Jahresende an. Kollegen, die gefährlich nahe am Nervenzusammenbruch balancieren, weise ich dann fürsorglich darauf hin, dass ihr Büro ein bisschen unaufgeräumt aussieht und sie selbst etwas erschöpft wirken. Geduldig erinnere ich dann daran, dass da noch eine Sache von Anfang Juni offen ist. Die könnte man doch am Nachmittag vor der Weihnachtsfeier schnell erledigen.

Meine Geduld ist grenzenlos, mein Elan sucht seines gleichen und ich ruhe in mir selbst. Da könne Sie sich gerne erkundigen. Ich würde Sie nur bitten, nicht gerade dann zu fragen, wenn ich gerade ungeduldig oder außer mir bin. Die Antworten die Sie dann erhalten, würden ein ganz falsches Bild abgeben. Heute Nachmittag zum Beispiel, rief mich ein Kunde an und sagte: „Hallo.“ Er sagte Hallo und verstummte dann. So was kann ich Ende Dezember gar nicht gebrauchen. Hallo was? Um Fassung ringend erkundigte ich mich danach, wie ich ihm denn behilflich sein könnte. Mit einer unangebrachten Trägheit, erklärte er mir, dass er anriefe weil ich bei der Firma XY arbeiten würde und er bei eben dieser Firma Kunde sein. Eine völlig überflüssige Information. Ich weiß wo ich arbeite und er weiß, dass er Kunde ist. Er teilte mir mit, dass er Hilfe benötigt. Auch das vermutete ich bereits und stand auf. Im Stehen verteilt sich meine Geduld besser auf den ganzen Körper. Er wisse nicht, ob ich ihm helfen könne, sagte er. Ich biss mir auf die Zunge um nicht zu erwidern, dass wir das ohne nähere Informationen nur schwer heraus finden würden. Mein Gesprächspartner hatte es nicht eilig ins Detail zu gehen. Im Gegenteil. Er erkundigte sich nach dem Wetter in München, bedauerte den fehlenden Schnee und hatte die Frechheit mich zu fragen ob viel zu tun sei. Bitte?! Der hatte sie doch nicht mehr alle. Ich versinke hier im Chaos, könnte jedem der an meinem Büro vorbei geht und mich zu grüßen wagt, anbrüllen und er fragt ob viel los sei? Ich bin im Stress! Ich Vollidiot hatte irgendwann erwähnt noch Kapazitäten frei zu haben und bin jetzt einen Tag vor dem Urlaub kurz davor mein E-Mail Postfach einfach ungelesen zu löschen und sämtliche Briefe und Faxe unbearbeitet im Datenmüll verschwinden zu lassen. Er muss doch an meinem Atem hören, dass ich kurz vorm Kollaps bin. Hört er nicht. Er plaudert weiter. Und zwischen dem Plaudern sagt er mir, was er will und braucht. Mein Schreibtischgegenüber, eine reizende sehr geduldige Person, lächelt mir aufmunternd zu und ich drehe ihr den Rücken zu. Keine Zeit zu lächeln. Ich bin im Stress. Und das sagte ich nach dem Telefonat auch. Jedem der es hören wollte und allen anderen auch. Ich rannte von Büro zu Büro, baute ich mich vor den Tischen anderer auf und erklärte, dass ich diesen Wahnsinn nicht mehr mitmachen würde. Der Baum vor dem Fenster ist hübsch? Der Baum kann mich mal. Die Lichterkette ist kaputt und die Spitze leuchtet schon wieder nicht. Scheiß Baum!

Vielleicht fragen Sie meine Kollegen lieber doch nicht nach meiner Geduld und Gelassenheit. Morgen nehme ich Weihnachtsmänner aus Schokolade mit und entschuldige mich bei ihnen. Bei dem, an dessen Schreibtisch ich einen Nervenzusammenbruch erlitten habe. Und bei dem, den ich angeblafft und gefragt habe ob er mich für fett hält, weil er meinte das weit geschnittene Kleid würde mir gut stehen. Auch bei der, deren Weinbrand Pralinen ich aufgegessen habe, weil es die einzige Möglichkeit war nicht darüber nachzudenken ob ich rund und dick geworden bin. Und ganz besonders bei einer, die mich täglich mit Tee versorgen. Ich vermute sie löst mir ab und zu ein paar Baldrian Tabletten darin auf. Die Gute! Falls Sie noch arbeiten müssen….mit etwas Geduld und Gelassenheit klappt das schon.

 

37 Gedanken zu “Sanft und gelassen brüllend

  1. ich war gerade mit in Deinem Büro….da ist wirklich die Hölle los…..Du nimmst mich immer wieder mit in Deinen Geschichten…..und übrigens, der Baum ist wirklich schön da draussen!

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  2. O ja, ich bin und war auch in meinem Job immer die „Ruhe und Ausgeglichenheit“ in Person, eben ein „Gänseblümchen“. Aber wirklich, wenn es hektisch wurde um mich herum, wurde ich provokativ immer langsamer und erdreistete mich sogar, einen Rückzug zur Zigarettenpause zu erzwingen, um den Nerv aus einer Situation zu nehmen.
    In Wahrheit: Ich kann und konnte mich grandios ärgern.
    Ich erinnere mich und habe gefunden in meinem Blog mal einen Gänseblümchen-Ärger oder sagen wir ein Gänseblümchen-Wundern. Wenn du möchtest, guckst du da: https://marana7.wordpress.com/2015/06/04/firlefanz-20501563/

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  3. Der Artikel trifft die Sache ´mal wieder im Kern. Den kenne ich nur zu gut. Ich weiß noch, als ich bei einer früheren Stelle öfter mal „aufs Klo“ verschwunden bin, weil da die Luft immer noch dünner und besser war als im Konferenzraum… Allen eine schöne Weihnachtszeit wünscht Nessy von den happinessygirls.com

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  4. Na, dann…Schönen Urlaub du Guteste. Liebe und Frieden und so 😉
    Herrlich amüsanter Text. Genau das Richtige, in vor weihnachtlich, chaotischen Tagen.
    Wer da heute zieht, frech am Faden, der bekommt eine Mitzi Rezitation gratis dazu 😉

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  5. Bewundernswert! Kommst aus den Turbulenzen des Büros nach Hause, setzt dich hin und machst mal eben ein feines Stückchen Literatur daraus. Der Text ist so schön gebaut, liebe Mitzi, dass es eine Freude ist, ihn zu lesen.Dieses Benennen von fiktiven Zeugen, die der angesprochene Leser niemals fragen könnte, denn er weiß ja nicht, wer „jeder“ ist, ist so ein gelungenes Stilmittel, das nicht nur dem Aufbau des Textes dient, sondern der Leser wie selbstverständlich hineinbittet in die erzählte Situation. Spätestens bei „Da könne Sie sich gerne erkundigen.“ wird klar, dass die Floskel vom Anfang “ Da können Sie jeden fragen.“ nur selbstironisch gemeint sein kann. Bis dahin erlebt man als Leser die Icherzählerin quasi stoisch über den Dingen schwebend. Nicht einbezogen schildert sie ein umfassendes Bild der vorweihnachtlichen Bürohektik, die sie noch durch gute Ratschläge und launige E-Mails wie mit einem Blasebalg ein bisschen anheizt. Nicht aber die Kollegen flammen auf und explodieren, sondern die Icherzählerin selbst. Und jetzt: „Vielleicht fragen Sie meine Kollegen lieber doch nicht nach meiner Geduld und Gelassenheit.“ leitet die Beschwichtigung und Wiedergutmachung ein. Perfekt!

    Herzlichen Glückwunsch und liebe Grüße ins Büro, wo die Wogen zwar gewiss noch hochgehen, aber an deinen Schreibtisch nur noch plätschern können, denn das Bewusstsein, dass der Urlaub schon bei dir auf der Matte steht, verkleinert sie,

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  6. Ich habe mich gerade in der U- Bahn so weggerollt… die Mitfahrer dachten sicherlich auch kurzfristig darüber nach ob ich meine Medikamente nicht genommen habe… das war ganz großes Kopfkino! Blumige Grüße Rita ⭐

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  7. Du schreibst ganz wunderbar! Es verlangt stets nach mehr…und deine Geschichte erinnert mich an Nikolausi-Osterhasi. Anfangs noch ganz lieb, und am Schluss wird gebrüllt. Schönes Wochenende und liebe Grüsse Erika

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  8. Das ist ein Problem. Dass die schlechten weniger, aber die guten Sitten aussterben. Etwa der Weihnachtsfriede. Oder auch, Dinge pünktlich zu erledigen oder es wenigstens zu versuchen. Zum Beispiel der Verkauf von Weihnachtssüßigketen nicht schon Wochen, was sage ich, Monate vorher, sondern erst dann, wenn man die zusätzlichen Kalorien dringend benötigt, weil sonst die Zahl der innerbetrieblichen Terror- und Mordanschläge ansteigt.
    Wie da noch Ruhe bewahren? Ach ja, zum Fenster hinausschauen und irgendwelche – womöglich gleich einem Großalarm bunt blinkenden – Lichter anschauen, sich von dem Stroboskopeffekt in ein meditatives Niemandsland entführen lassen und dabei die für die Kollegen mitgebrachte Schokolade auffuttern.
    Und nie mehr auftauchen… He, wer rüttelt da an meiner Schulter? Was soll das? Was machen diese Leute in den orangen Warnwesten hier?

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    1. Ich sehe, du bist mit dem vorweihnachtlichen Wahnsinn bestens vertraut. Die Warnwesten-Menschen überspringst du aber besser. Die bringen einen am Ende noch an einen zwar ruhigen, aber eindeutig nicht schönen Ort.

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      1. Ach, man muß es nur zu genießen wissen… Bringt mir ein paar Bücher und keine Bettnachbarn, die glauben, dass Radio und Fernseher alles besser machen (hatte ich auch schon. Und natürlich, vermutlich verdiente Strafe, bei strengstem Verbot, überhaupt aufzustehen und über Käbelchen irgendwelche Piepsmaschinen aufzuwecken, ein Exemplar von der Sorte: Radio an, Fernseher an und dann erst mal raus, eine rauchen! Höchststrafe!).

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