Anna, geh ins Bett! U-Bahn Gedanken

„Ich hab dich lieb. Schlaf gut.“ Er sagt es ganz leise. Ich mag seine Stimme schon bei den ersten Worten. Sehr warm und weich unterstreicht sie die schönen Sätze. Ich habe dich lieb, das sagt man zu Kindern, wenn man sie in der früh verabschiedet. Man sagt es auch zu seinen Eltern, wenn sie ein Alter erreicht haben, in dem sich die Rollen langsam tauschen. Er sagte es zu keinem Kind und sicher nicht zu seiner Mutter. Seine Worte müssen seiner Frau oder Freundin gelten. Sie bedeutet ihm viel. Ich höre es an dem sanften Klang seiner Stimme und sehe es an der Art wie er sein Telefon in beiden Händen hält. Mit dem Daumen streicht der über dem Rand der Plastikhülle. Ich stelle mir die weiche Wange einer Frau vor, die er ebenso berührt. Das Streichen eines Daumens über eine Wange ist eine schöne Geste. Man kann damit Tränen zur Seite wischen oder die Zeit einen Moment lang anhalten. Dann, wenn die Augen die zu dem Daumen gehören in die Augen nahe der Wange blicken.

„Schlaf gut.“ Es ist ein Satz, der ein Gespräch beendet. Es ist ein schöner Schluss. Innig, denn er schickt den anderen mit einem guten Wunsch in die Nacht. Unnötig anzufügen dass auch schöne Träume gewünscht werden, wenn die Stimme sagt, was Worte nicht schöner ausdrücken könnten. Ich höre an seinem Tonfall, dass der Wunsch der guten Nacht das Gespräch beendet. Ich höre auch, wie die Angesprochene dennoch weiter spricht. Was sie sagt höre ich nicht. Ihre Worte sind nur für ihn deutlich zu hören. Er telefoniert mit den Kopfhörern in der vollbesetzten Bahn. Ich bin nur ein zufälliger Zuhörer, der neben ihm sitzt und zwei schöne Sätze gehört hat.

Ihre Worte, die für mich nur ein undeutliches Rauschen sind, haben nichts mit der schönen Ruhe seiner beiden Sätze gemeinsam. Das zu erwarten wäre auch unfair. Während der eine klar und deutlich neben mir spricht, ist die anderen kaum zu verstehen. Trotzdem sind es zu viele Worte die rauschend zu mir dringen. Die Stimme spricht weiter und aus dem Augenwinkel sehe ich ihn nicken. Ein paar Momente später wiederholt er seine Worte. „Schlaf gut, Anna.“ Ein schöner Name. Wir sprechen einen anderen oft mit seinem Namen an, um unsere Aussagen zu verstärken. „Schlaf gut, Anna.“ Ich riskiere einen Blick auf das Display seines Telefons und sehe Annas Foto während das Rauschen ihrer Stimme leise aber unablässig zu hören ist. Ich möchte ihr zuraunen, dass das Gespräch doch schon zu Ende ist. Vorsicht, Anna. Die zarte Geste des streichelnden Daumens beginnt sich bereits in ein neutrales Wischen zu verwandeln. Schon ist eine Spur Ungeduld in seiner Stimme zu hören als er Anna ein drittes Mal ins Bett schickt. Der schöne kurze Satz „Schlaf gut.“ wird ersetzt durch „Nun geh ins Bett, Anna.“ Ob Anna krank ist? Es ist erst kurz nach 18:00 Uhr. Ihre Stimme funktioniert. Sie spricht weiter obwohl er sie immer wieder kurz unterbricht. Mit einzelne Worten. Ja. Ich weiß. Und immer wieder gute Nacht, Anna. Ich zähle mit. Fünf mal schon „Gute Nacht“. Drei mal „Anna…“ und zwei mal „Ja, ich dich auch.“

Fast tut es mir leid, dass Anna sich nun mit einem „Ich dich auch“ zufrieden geben muss. Es klingt ausdruckslos und ein wenig erzwungen. Ob Anna, genau wie ich, schon jetzt ahnt, dass sie mit dem „Ich hab dich lieb“ besser in den Schlaf gesunken wäre? Gegen ein „Ich hab dich lieb“ kann das „Ich dich auch“ nur verlieren. Es ist ja nur eine Erwiderung mit schwacher Aussage. Ach Anna. Jetzt aber still und ab ins Bett. Anna hört mich nicht und spricht weiter. Es ist traurig zu hören, wie jemand weiter spricht wenn ein Gespräch bereits zu Ende ist. Sie merkt es nicht oder sie will es nicht merken. Erst als er leise, sehr leise, mit fast monotoner Stimme sagt „Ich liebe dich, Anna.“ verstummt die Stimme. Eigentlich müsste die Temperatur um einige Grad ansteigen, wenn ein so schöner Satz in der Luft hängt und sie wärmt. Aber, ach Anna, das Gegenteil ist passiert. Da hast du ihn nun, deinen Satz und er ist nichts wert. Das schöne wurde bereits vor mehreren Minuten gesagt. Obwohl es keine berühmten Worte waren, verriet seine Stimme, dass das „Ich hab dich lieb“ echt war während das „Ich liebe dich“ erzwungen war und nur dazu diente, ein Gespräch endlich zu beenden.

Das Telefon mit Annas Bild verschwindet in der Tasche eines Parkers und der Mann neben mir steigt aus. Ich schaue ihn nicht an. Er geht mich ja nichts an. Genauso wenig wie mich sein Gespräch mit Anna etwas anzugehen hat. Ich bin nur zufällig neben ihn gespült worden. Und doch bin ich enttäuscht und fühle mich Anna ganz nah. Ich ahne, dass sie das Telefon noch in der Hand hält und traurig auf das dunkle Display blickt. Nein Anna, so schlimm ist es nicht. Er musste ja aussteigen.

Ich auch. Ach Anna, nun habe ich wegen dir auch noch meine Station verpasst.

21 Gedanken zu “Anna, geh ins Bett! U-Bahn Gedanken

  1. Feinfühlig miterlebt und ebenso niedergeschrieben. Was ich mich frage und jetzt auch dich: Besteht für dich ein Unterschied zwischen dem „Ich hab‘ dich lieb“ des Telefongesprächs und dem „Ich habe dich lieb.“ Wirkt die sprachlich verkürzte Form liebevoller oder belangloser? Klingt die korrekte Form reservierter oder vollständiger? Das weiß ich grad mal nicht und hoffe auf deine sprachsensible Auskunft, liebe Mitzi.

    Gefällt 1 Person

  2. Hm…für mich wirkt die verkürzte Form des „liebhabens“ tatsächlich liebevoller und weicher. Keinesfalls belangloser. Im Gegenteil. Ich empfinde es sogar intimer und die korrekte Form etwas sperrig.
    Beim lieben ist es genau umgekehrt. Da bevorzuge ich die korrekte Form und möchte ein „Ich liebe dich“ hören weil „ich lieb´dich“ geschludert und genuschelt klingt.

    Woran es aber liegt, dass ich so empfinde, kann ich dir nicht sagen, lieber Jules.

    Gefällt 2 Personen

  3. Mitzi 🙂
    Ich schließe mich den Vor Kommentatoren an.
    In einem Haps verschlungen.
    Auch ich hab mich gefühlt als würde ich neben dir sitzen. Wie viel du aus dieser kleinen Begegnung raus geholt hast…Faszinierend. Und gar nicht klein. Einfach schön. Schön traurig.

    Gefällt 1 Person

  4. Das war ein Geschenk,Für Dich in der Bahn und für mich am PC. Das könnte so etwas wie eine Fügung gewesen sein.Du hast es abgespeichert auf Deiner Wunderbaren Gedankenwiese und Anna ist eine weitere neue Blume.Selbst nach langer Zeit wirst Du dich noch erinnern,und ich auch.

    Like

  5. Beim Lesen habe ich Angst um Anna bekommen, die eine Liebe zerreden könnte. – Aber warum wird eine erwachsene Person um 18.00 Uhr ins Bett geschickt? Steckt da doch jemand anderes dahinter?
    Für mich ist „ANNA“ eine der schönsten Erinnerungen, denn ich habe ein Kind so genannt (für den Blog), die ich von ihrem 5. bis zu ihrem 12. Jahr betreut habe, wenn ihre Mutter arbeiten musste. Sie war das beste „Einkelkind“, was ich je hatte.
    Gute Nacht!

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar