4 Minuten Gespräche

Wikipedia definiert Routine, als eine Handlung, die durch mehrfaches Wiederholen zur Gewohnheit wird und beschreibt dadurch zutreffend eines meiner morgendlichen, werktäglichen Rituale. Pünktlich um 06:51 Uhr stehe ich am kleinen Kiosk im U-Bahn Untergeschoss und kaufe eine Tageszeitung und ein einzelnes Ferrero Roche. Der Duden definiert wie Routine dagegen als Ausführung einer Tätigkeit, die zur Gewohnheit geworden ist und jedes Engagement vermissen lässt. Wenn ich davon ausgehe, dass das aushändigen meiner Zeitung auch für die drei Kioskmitarbeiter längst zur Routine geworden ist, muss ich dieser Beschreibung widersprechen. Sie zeigen Engagement. Mehr noch – anstelle von Routine, wird mein täglicher Einkauf durch sie zur liebgewonnen Tradition.
Obwohl ich seit mehreren Jahren täglich vor dem kleinen Fenster stehe, kann ich mir partout nicht merken, wer von den Dreien an welchem Tag arbeitet. Nur donnerstags. Da weiß ich dass Hilde mich bedient. Donnerstags kaufe ich anstelle der Tageszeitung die inTouch. Peinlich, ich weiß. Seichter geht es kaum. Grausam. Unterirdisch. Nur Fotos von Promis, kaum Text. Hilde ist es genauso peinlich, wie mir. Deshalb nimmt sie die Zeitung nicht mit nach Hause, sondern liest sie morgens, bevor die ersten Kunden kommen. Um 6:51 Uhr ist sie bereits bestens informiert und begrüßt mich ungeduldig vor dem Kiosk stehend. Dass wir eigentlich nicht zugeben würden, diese Zeitung zu lesen, ignoriert Hilde. Und ich auch. Wir haben 4 Minuten, bis ich zu meiner U-Bahn rennen muss. 4 Minuten in denen wir über Schwangerschaften, Diäten, Trennungen und Cellulitis sprechen. Nicht unsere. Die von Heidi, Sabia, Beyoncé und Angelina. So sehr wir unseren Donnerstags-Tratsch lieben, nach den wenigen Minuten reicht es dann auch wieder. Es gibt schließlich wichtigeres. Wobei…Heidi Klum ist seit ihrer Diät wirklich extrem faltig geworden.

Ist Hilde nicht da, schiebt mir fast immer Traudl die Zeitung über den Tresen. Traudl würde sich nie über Prominente unterhalten. Überhaupt spricht Traudl eher wenig und konzentriert sich auf das Wesentliche. Lange Zeit schob sie mir das Wechselgeld kommentarlos zu und erwiderte meinen Gruß nur mit einem angedeuteten Kopfnicken. Sie sprach mich das erste Mal am Morgen nach meiner schlimmsten Trennung an. Ich war weder verheult noch sagte ich einen Ton. Trotzdem merkte Traudl, dass es mir nicht gut ging. Anstelle meiner Zeitung reichte sie mir einen Becher heißer Schokolade und eine Packung Taschentücher durch das kleine Fenster. „Ein Mann?“ erkundigte sie sich und ich nickte. An diesem Tag verpasste ich nicht nur eine U-Bahn. Ich verpasste mindestens fünf und lernte einen Menschen kennen, der mich jetzt seit über fünf Jahren begleitet. Traudl weiß sehr viel über mich. In kleinen Häppchen, erzählen wir uns, was uns beschäftigt und uns wichtig erscheint. 4 Minuten reichen uns dabei selten. An den „Traudl-Tagen“ verpasse ich meistens meinen Anschlusszug. Wie könnte ich sie auch unterbrechen, wenn sie mir von ihrer Schilddrüsen Operation oder den gesundheitlichen Problemen ihrer fast hundert jährigen Mutter erzählt? Sie ist ein Sammelsurium an Münchner Anekdoten. Kennt das Viertel wie ihre Westentasche und hat das herrlichste und lauteste Lachen, das ich kenne. Wen Traudl in ihr großes Herz geschlossen hat, kann sich glücklich schätzen. Er findet immer ein offenes Ohr und fühlt sich, nach einem kurzen Gespräch mit ihr, glücklicher und verstandener als zuvor. Wenige Augenblicke reichen dieser über siebzig jährigen Frau für eine knappe und messerscharfe Analyse ihres Gegenübers. „Heid gehst amoi wieder hoam, zum Bappa. Des muas ausgredt wearn.* “ Sagt sie mir bei Familienchaos und ich weiß, sie hat recht. Oder „Jetza ruaf eahm oh!** Der wart´ doch drauf.“ Wenn ich mich nicht traue den ersten Schritt zu mache.

Aki und ich kamen ins Gespräch, als ich mein Buch der Woche, auf den Tresen knallte. Er griff danach. „Fontane? Ey cool, der Alte.“ Kein Witz, das waren seine Worte. Für Aki war Fontane ein cooler Alter. Ich nickte und grinste ihn (arrogant, wie er mir Monate später vorhielt) an. Ich ließ ihm das Buch da. Nach einer Woche gab er es mir zurück. Effi und der Alte. Das ginge ja mal gar nicht, meinte Aki. Aber cool, der Alte (diesmal war Fontane gemeint). Trotzdem nicht so seines, aber das erste Buch, dass er seit Jahren gelesen hätte. Wer sich mit Anfang zwanzig, mir zu liebe, durch Effi Briest quält, hat mein Herz erobert. Im letzten Jahr fütterte ich Aki mit „Schöne neue Welt“, „Geschlossene Gesellschaft“ von Sartre, „Die Farm der Tiere“ von Orwell, „Mobby Dick“ und einigen Büchern mehr. Er hat sie alle gelesen und revanchiert sich mit USB Sticks voller Musik, die teilweise richtig schlimm und oft genial ist.

Aki ist mein adoptierter kleiner Bruder. Hilde meine 4 Minuten Tratsch-Schwester im Geiste und Traudl…ach Traudl ist mir so vieles! Heute sagte sie mir, das der Kiosik Ende nächster Woche schließen würde. Ein Backshop käme hinein. In der U-Bahn habe ich geheult. Ohne die Drei in die Woche zu starten erscheint mir unmöglich. Erst seit heute morgen weiß ich, wie wichtig sie mir geworden sind.

Hochdeutsch:
*Heute gehst du mal wieder nach Hause, zu deinem Vater. Darüber muss gesprochen werden.
**Jetzt ruf ihn an!

30 Gedanken zu “4 Minuten Gespräche

  1. Wie traurig, dass der Kiosk geschlossen wird! Ich kann verstehen, dass die Morgende ohne ihn schwer vorstellbar erscheinen. Ich finde aber, das wirklich Besondere liegt bei Dir; Deiner Fähigkeit, solche Bindungen aufzubauen und Menschen kennenzulernen, die andere, die ihren Kaffee im morgendlichen Wachkoma kaufen, in zehn Jahren nicht richtig sehen. Toll. (So wäre ich auch manchmal gerne. Obwohl, auch nicht immer. Ich mag meine Ruhe, wenn ich ehrlich bin.) LG, Sarah

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  2. Danke, das ist lieb von dir.
    Aber…ganz ehrlich…an manchen Tagen möchte ich auch einfach nur meine Ruhe haben und nicht reden. Ich fürchte, das sieht man mir dann auch deutlich an.
    Liebe Grüße

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  3. Deine Erzählung ist wirklich toll! Aber auf das Ende war ich nicht vorbereitet 😦
    Das tut mir wirklich sehr Leid für dich und all die anderen, dass dieses Herzstück jetzt einem charakterlosen Kettenshop weichen muss!

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  4. Heute habe ich endlich die Zeit gefunden, deine wunderbare Alltagsgeschicht über die Vier-Minuten-Gespräche am Kiosk in Ruhe zu lesen. Dass er einem Backshop weichen muss, ist schade. Immerhin hast du ihm hier beinah ein Denkmal gesetzt, obwohl du nicht sagst, wo er genau ist. München und an der U-Bahn.
    Ein Weile pendelte ich der Liebe wegen nach München. Morgens holte ich die Brötchen in so einem Backshop. Eine hagere alte Frau kam in den Laden. Trotz ihres schwarzen Stocks kann sie kaum gehen, weshalb ihr alles gebracht und in die Einkaufstüte gepackt wird, derweil der Brötchenaufbäcker in einem unverständlichen Idiom mit ihr plaudert. Eines verstehe ich aber. Wie sie auch noch eine Flasche Helles haben will, sagt er fürsorglich: „Du wolltest doch nicht mehr soviel saufen, Anna!“ „Hier geht es ziemlich familiär zu“, sage ich nachher zu ihm. Er bestätigt: „Ja, es ist hier wie auf dem Dorf“ und ergänzt, was mir verschiedene Gewährsleute schon mitgeteilt haben, dass München eine Ballung von Dörfern sei. Daran erinnert mich auch dein Text.

    Ich hab mal Folgendes notiert: Für den Zusammenhalt zwischen den Dörfern haben die Münchner eilige Füße, Busse, eine putzige blaue Tram und ein bestens verknüpftes S-Bahn-U-Bahnnetz mit einhundert Bahnhöfen. Bevor eine U-Bahn der Münchener Verkehrsgesellschaft (MVG) abfährt, ruft eine Stimme: „Zurückbleiben!“ Man kann kaum verhindern, einmal auf der Schwelle von diesem Befehl erwischt zu werden. Dorfbewohnern sagt man ja nach, sie wären ein bisschen zurückgeblieben. Doch muss die MVG die Münchner ständig zum Zurückbleiben auffordern? Das grenzt an Gehirnwäsche, ist aber offenbar nötig, denn einmal am Tag muss jeder Münchner, jede Münchnerin sich zum Marienplatz begeben und sinnlos am prächtigen Rathaus vorbeilaufen, weshalb da ein unfassbares Gerenne ist. Überhaupt ist das Herumrennen üblich. Wer steht, ist fremd und befragt seine Smartphone-Apps.

    Ist es nicht so, fragt mit besten Grüßen,
    Jules

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    1. Herrlich, Jules!
      Da hast du ein wunderbares Stück München eingefangen. Man sagt dass München, ein Dorf ist. Aber wie du richtig bemerkst, es sind eher viele Dörfer. Ich komme aus Giesing. Untergiesing. Das ist wichtig. Obwohl ich oben auf dem Hügel wohne, gehört meine Straße noch zu Untergiesing. Nach Obergiesing währe ich nie gezogen. Warum? Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin einfach Untergiesingerin, da ist es schöner.

      Die Stimme, die zum zurückbleiben auffordert, kommt übrigens noch immer nicht vom Band. Es ist der Schaffner, der nuschelt, einlullt oder auch gerne mal losbrüllt.

      Jetzt muss ich los. Bin auf dem Sprung. Zum Marienplatz. 😉
      Liebe Grüße und herzlichen Dank für deine Zeilen, die mich ein wenig versöhnlicher stimmen, wenn ich an den kommenden Backshop denke.
      Mitzi

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    1. Die beiden Damen sind im oder kurz vor dem Rentenalter und die Arbeit im Kiosk war mehr ein Hobby. Ich glaube, sie sind auch froh jetzt gezwungenermaßen etwas kürzer zu trete. Aki…tja, der taumelt weiter durchs Leben. Ich könnte mir gut vorstellen, ihn irgendwann in meinem Viertel zu treffen.

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  5. Auch ich habe eine zeitlang in München gelebt und fand diese Stadt insgesamt sehr anonym. Schön, wenn man sich darin solche kleinen menschlichen „Inseln“ schaffen kann! Ich mag auch Deinen Schreibstil einfach gerne! Liebe Grüße, Nessy von den happinessygirls.com

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  6. Danke, Nessy.
    ich fürchte mit dem anonym hast du recht. Ich selbst empfinde es nicht so – aber ich bin ja hier verwurzelt. Von Bekannten die neu in der Stadt sind, habe ich es schon öfter gehört. Schade eigentlich.

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  7. durch EFFI BRIEST quälen ist echt harter tobak … gibt es eventuell einen direkteren weg in dein herz?

    also … jetzt wo da ein backshop hin kommt … naja … der verlust … die lücke … vielleicht solltest du dir da einen bodyguard zulegen … der sich auch als seelenbeauftragter eignet … 😳

    lg

    André

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